Quantcast
Channel: xxxRessourcen
Viewing all 100 articles
Browse latest View live

Kohleatlas: Vorwort

$
0
0

Deutschland ist Weltmeister – bei der Förderung von Braunkohle. Die 30 größten Kohlekraftwerke stoßen ein Viertel der deutschen Treibhausgase aus. Mit über 350 Milliarden Euro wurde das Geschäft mit der Kohle seit 1950 staatlich subventioniert. Kohle war das „schwarze Gold“, das die Industrialisierung befeuerte. Noch heute bildet sie in vielen Ländern das Rückgrat der Energieversorgung. Die Kehrseite des Kohle-Booms – von der Förderung bis zur Verbrennung in Kraftwerken und Industrieanlagen – sind enorme Schäden für Mensch und Natur.

Der Kohle-Boom ist eine zentrale Ursache für den Klimawandel. Der Kohleatlas erscheint zu einer Zeit, in der in etlichen Ländern eine heftige Diskussion um die Zukunft des Energiesektors in Gange ist. Es geht um den schrittweisen Ausstieg aus der Kohleverstromung. Der Abschied von der Kohle ist ein Schlüssel für den Übergang in eine postfossile Zukunft. Er ist machbar, wenn wir unsere Energieversorgung konsequent auf erneuerbare Energiequellen ausrichten. Und er ist notwendig, damit Deutschland seinen internationalen Klimaverpflichtungen nachkommen kann.

Noch klafft bis 2020 eine „Klimaschutzlücke“ von rund 100 Millionen Tonnen CO2. Die gute Nachricht: Der Umstieg auf ein erneuerbares Energiesystem gefährdet nicht Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit, sondern fördert sie. Er setzt neue Produktivkräfte frei, regt technologische und soziale Innovationen an und entzieht den Energiemonopolen die Machtbasis. Mit einer Energierevolution kommen wir der Vision einer ökologischen und gerechten Gesellschaft ein ganzes Stück näher.

Im UN-Gipfeljahr 2015 schaut die Weltgemeinschaft erwartungsvoll auf das Energiewendeland Deutschland. Wir betrachten diese globale Modellfunktion nicht als Bürde, sondern als Ansporn. Der Kohleatlas regt zum kritischen Nachdenken über unser Energiesystem und unseren Rohstoffverbrauch an – und damit zum Nachdenken über unsere gesamte Wirtschafts- und Konsumweise. Damit ist der Kohleatlas politische Bildung im besten Sinn. Wir hoffen, dass die Publikation die öffentliche Debatte bereichern und vielfältige Verwendung finden wird – im Unterricht wie in den Medien, in Verbänden oder in der Politik.


Emissionshandel: Starke Industrie, schwache Instrumente

$
0
0

Als großes Geschäft hat sich der Handel mit Verschmutzungszertifikaten herausgestellt. Für das Klima hat er bisher wenig gebracht. Doch Alternativen werden kaum diskutiert. Ein Kapitel aus dem Kohleatlas.

Um den Ausstoß von Treibhausgasen zu begrenzen, haben einige Länder Systeme eingeführt, um mit den Emissionen zu handeln – so auch die Staaten der EU. Von nationalen Plänen ausgehend, wurde eine zulässige Gesamtmenge von Emissionen für alle betroffenen Indus­trieanlagen festgelegt. Deren Betreiber können diese Emissionen nun in Form von Zertifikaten untereinander handeln: Wer weniger Treibhausgase ausstößt, als er eigentlich dürfte, kann die nicht benötigten Verschmutzungszertifikate verkaufen. Wer mehr emittiert, kauft Zertifikate zu. Dieses System soll finanzielle Anreize geben, Emissionen zu reduzieren. Wer zu viel emittiert, muss mehr Geld ausgeben, wer Emissionen senkt, kann die dafür nötigen Investitionen aus dem Erlös verkaufter Zertifikate bezahlen.

17 Emissionshandelssysteme sind weltweit installiert, weitere befinden sich in Planung. Das größte ist der länder­übergreifende europäische Emissionshandel. Systeme auf nationaler Ebene gibt es in Neuseeland und Südkorea, regionale in Kalifornien, Tokio und in vielen Provinzen Chinas. Bis 2016 wird die Menge der durch dieses Instrument er­fassten Emissionen auf 6,8 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente steigen.

Hinter dem Emissionshandel stehen zwei Versprechen: Erstens soll er den klimaschädlichen CO2-Ausstoß kontrollierbar begrenzen. Zweitens soll er Anreize schaffen, in den Klimaschutz zu investieren. Doch der Emissionshandel hält weder das eine noch das andere Versprechen, wie das Beispiel des europäischen Emissionshandels zeigt.

Unter großem Druck der Lobby hat die EU die erlaubten Emissionen ab 2008 zu großzügig bemessen und sie auch in der Folge zu wenig verknappt. Die Menge der Zertifikate war von Anfang an zu hoch und das Preisniveau daher zu niedrig, um in den Klimaschutz zu investieren. Zusätzlich haben die Staaten gerade den klimaschädlichsten Unternehmen noch finanzielle Vorteile verschafft, indem sie Zertifikate im großen Umfang kostenlos verteilten.

Wer sie empfing – darunter die großen Kraftwerksfirmen –, nutzte die Gunst der Stunde und verkaufte die überschüssigen Zertifikate. So haben allein die zehn größten Nutznießer von 2008 bis 2012 Profite in Höhe von 3,2 Milliarden Euro gemacht. Mittlerweile müssen die Energie­konzerne die benötigten Zertifikate zwar vollständig ersteigern, doch fast alle Verschmutzer der Industrie erhalten sie dank großzügiger Ausnahmen weiter kostenlos. Außerdem profitieren alle Unternehmen von der Übertragung überschüssiger Zertifikate aus früheren Handels­perioden. Der Stahlkonzern ArcelorMittal zum Beispiel muss bis 2024 keine zusätzlichen Zertifikate kaufen.
Theoretisch mag der Emissionshandel geeignet sein, CO2-Emissionen zu senken und gleichzeitig unternehmerische Freiheit zu gewähren. Praktisch hat er aber noch keinen nennenswerten Beitrag zum Klimaschutz geleistet. Grund sind auch die sogenannten Offset-Gutschriften, die Konzerne seit 2008 in großer Zahl außerhalb des Emissionshandels einkaufen dürfen. Die Idee dahinter: Weil es egal ist, wo auf der Welt der Treibhausgasausstoß begrenzt wird, kann ein europäischer Energiekonzern, statt selbst teuer seine Emissionen zu reduzieren, ebenso gut anderswo zur Einsparung von CO2-Emissionen beitragen. Doch wie liefe die Entwicklung ohne eine solche Finanzierung? Etwa ein Drittel bis die Hälfte der Projekte bringt keinen zusätzlichen Nutzen, weil die entsprechenden Investitionen ohnehin stattgefunden hätten. Und in Europa mindern die Offsets den Druck, sich auf emissonsärmere Produkte umzustellen.

Längst ist der Emissionshandel auch zum Geschäftsfeld für die Finanzmarktindustrie geworden. Einfache, direkte Transaktionen zwischen Anbietern und Nachfragern von Verschmutzungsrechten sind die große Ausnahme geworden. Kohlendioxid ist zu einer Art Rohstoff für institutionelle Investoren geworden und wird in Form verschiedener Wertpapiere gehandelt. Angesichts des Überangebots an Zertifikaten ist der Handel allerdings quasi zum Erliegen gekommen. Außerdem haben Steuerbetrugsskandale, in die auch die Deutsche Bank verwickelt war, die Anfälligkeit und Verwundbarkeit des Systems gezeigt. Die britische Steuerbehörde HMRC hielt große Teile des Emissionshandels für "mit Betrugskriminalität behaftet".

Durch die Offsets, die Überausstattung, die Wirtschaftskrise 2008/09 sowie die damit zusammenhängenden Fehlprognosen ist der Überschuss an Zertifikaten in Europa auf mehr als zwei Milliarden gestiegen. So ist der CO2-Preis bislang viel zu niedrig. In Kombination mit günstigen Kohle- und hohen Gaspreisen hat das in Europa zu einem Kohleboom geführt. Von 2010 bis 2013 sind die Emissionen in diesem Sektor um sechs Prozent gestiegen, weil der CO2-Zuschlag nicht ausreichte, um den Strom aus den klimafreundlicheren Gaskraftwerken im Vergleich zum Kohlestrom wettbewerbsfähig zu machen. Die Kohle hat das Gas verdrängt. Nun hat sich die EU endlich zu einer Reform durchgerungen, die den CO2-Markt und -Preis ab 2019 stabilisieren soll. Um aber wirksam zu werden, braucht der Emissionshandel eine stärkere Begrenzung der Emissionen.

Eines der alternativen Politikinstrumente, auf das mehrere US-amerikanische Bundesstaaten, Kanada sowie Großbritannien setzen, sind CO2-Grenzwerte für fossile Kraftwerke. Die britische Regierung etwa hat 2013 neben einem CO2-Mindestpreis jährliche Emissionsbudgets für neue Kraftwerke festgelegt, die dem Ausstoß eines modernen Gaskraftwerks entsprechen. Seit 2014 erhebt Frankreich eine – wenn derzeit auch niedrige – Steuer auf Kraft- und Brennstoffe. Sie soll in den kommenden Jahren schrittweise erhöht werden. Forcieren ließe sich das Abschalten alter Kohlekraftwerke auch mithilfe eines technischen Kriteriums, dem Wirkungsgrad. In den Niederlanden soll eine Mindestanforderung gelten, die dazu führt, dass bis 2017 fünf Altanlagen abgeschaltet werden.  

Natur: Weiterleben nur auf Pump

$
0
0

Die Zerstörung der Landschaft ist das große Problem der Tagebaue und ihrer Umgebung. Die Rekultivierung ist oft mangelhaft. Und wo unter Tage Stollen waren, senken sich die Böden. Ein Kapitel aus dem Kohleatlas.

Die Kohleförderung hat erhebliche Auswirkungen auf die Natur. In Tagebauen, die etwa 40 Prozent der ­Kohleförderung weltweit ausmachen, wird das gesamte über der Kohle liegende Erdreich abgeräumt und die Landschaft vollkommen zerstört. Fauna und Flora werden vernichtet, das lebendige Erdreich weggeschaufelt. Die Bagger graben gewaltige Krater von bis zu mehreren Hundert Metern Tiefe in den Boden. Ein besonders drastisches Beispiel der Tagebauförderung ist das sogenannte Mountaintop Removal in den Appalachen in den USA. Hier werden ganze Bergkuppen weggesprengt und in die Täler verfüllt, um an die Kohle zu gelangen.

Auf der Erde gibt es Tausende Kohleminen. Gemessen an den Reserven ist die North Antelope Rochelle Mine im US-Bundesstaat Wyoming die größte der Welt. Ihre Reserven werden auf 2,3 Milliarden Tonnen Steinkohle geschätzt. Jährlich werden über 100 Millionen Tonnen in einem Tagebau von 250 Quadratkilometern Fläche gefördert. Mit geschätzten 1,7 Milliarden Tonnen Reserve und einer jährlichen Fördermenge von 20 Millionen Tonnen gilt die Haerwusu-Mine in der Inneren Mongolei in China als zweitgrößte Mine. Sie erstreckt sich über 67 Quadratkilometer. Weitere Mega-Minen liegen in Mosambik, Australien, Russland, Kolumbien, Südafrika und Indonesien.

Die aktiven deutschen Tagebaue erstrecken sich inzwischen über 590 Quadratkilometer. Sie fördern jedes Jahr mehr als 180 Millionen Tonnen Braunkohle. Für den genehmigten Abbau geht jeden Tag die Fläche von drei Fußballfeldern verloren, darunter Wald- und Ackerflächen, Wohnsiedlungen und geschützte Biotope. Insgesamt hat der deutsche Braunkohletagebau bislang eine Fläche doppelt so groß wie Berlin verbraucht. Zwar werden die Flächen nach Abschluss der Kohleförderung rekultiviert, in Deutschland bislang 70 Prozent. Das dauert jedoch nicht nur sehr lange, sondern kann auch den ursprünglichen Zustand nicht wiederherstellen. In vielen Regionen der Welt findet keine oder nur eine unzureichende Rekultivierung statt.

 Damit die Abbaugruben bei der Kohleförderung nicht mit Wasser volllaufen, wird der Grundwasserspiegel mithilfe von Pumpen abgesenkt. Im rheinischen Tagebau Hambach werden das während seiner Betriebszeit von planmäßig 60 Jahren insgesamt fast 45 Milliarden Kubikmeter Grundwasser sein, fast so viel Wasser wie im Bodensee. Die Trockenhaltung verändert den Wasserhaushalt auch großer Flächen um den Tagebau herum. Die Absenkung des Grundwassers auf bis zu 550 Metern Tiefe kann die Quellen von Bächen und Flüssen versiegen und Bäume absterben lassen, Feuchtgebiete und Moore schädigen und die Biodiversität in diesen Zonen reduzieren. Meist sind gerade diese Nachbargebiete wichtige, manchmal auch die einzigen Zufluchtsgebiete für seltene Pflanzen- und Tierarten, wenn der Tagebau bereits weite Teile ihres Lebensraums zerstört hat.

Ein solches Abpumpen – Fachleute nennen es „Sümpfung“ – beeinträchtigt oder gefährdet auch die Versorgung mit Trinkwasser, wenn Brunnen trockenfallen. Es kann bis zu hundert Jahre dauern, bis das Grundwasser wieder seinen alten Spiegel erreicht hat. Um die Folgen zu verringern, sollen zwei neue Tagebaue in der Lausitz unterirdische Dichtwände erhalten, um die Sümpfungsflächen klein zu halten – die Wirkung ist ungewiss.

Darüber hinaus führen das Abgraben und die groß­räumige Umlagerung der Bodenschichten bei bestimmten Bodenverhältnissen dazu, dass die darin enthaltenen Eisen- und Schwefelverbindungen mit Luft zu Eisen und Sulfat oxidieren. Wenn der Grundwasserspiegel nach dem Abbaggern der Braunkohle wieder ansteigt, bildet sich Schwefelsäure. Sie lässt die Tagebauseen sowie das Grundwasser versauern. Basische Stoffe wie Kalk können die Versauerung reduzieren, aber nicht vollkommen verhindern. Das durch die Baggerarbeiten freigesetzte Eisen wiederum wird teilweise zu Eisenhydroxid, dem sogenannten Eisenocker. Die „Verockerung“ von Fließgewässern, in Deutschland vor allem der Spree, ist als braune Verfärbung des Wassers sichtbar. Sie setzt technischen Anlagen wie Pumpen und Rohren zu. In der Natur zerstört sie Laichplätze von Fischen und verringert ihr Nahrungsangebot.

Auch in geologischer Hinsicht sind die Hinterlassenschaften der Kohleförderung problematisch. Bei den Tagebauen kann es auch nach Jahrzehnten noch zu lebensgefährlichen Rutschungen des Erdreiches kommen. Die Stollen unter Tage lassen den Grund absinken und führen zu Schäden an Gebäuden und Straßen. Solche Folgen der Kohleförderung werden nachkommende Generationen als „Ewigkeitslasten“ noch lange beschäftigen. In alten Kohleschächten muss der Wiederanstieg des Grundwasserspiegels durch ununterbrochenes Pumpen verhindert werden. Andernfalls würden zum Beispiel ganze Stadtteile im Ruhrgebiet überflutet werden, die sich in der Vergangenheit durch den Bergbau abgesenkt haben.

Das Dauerpumpen ist auch aus ökologischen Gründen notwendig, denn in früheren Bergwerksstollen wurde auch giftiger Sondermüll etwa aus Müllverbrennungsanlagen entsorgt – im Ruhrgebiet sind in mehreren stillgelegten Zechen rund 700.000 Tonnen Filterstäube eingelagert. Würde das Grundwasser wieder ansteigen, könnten diese Substanzen weiträumig in die Umwelt gelangen.

Auch die giftigen Kraftwerksaschen – ein Nebenprodukt bei der Verbrennung von Kohle – stellen ein Umweltproblem dar. Die Deponien sind oftmals ungenügend gesichert, und ihr toxischer Inhalt gerät in die Umwelt. Dabei muss es nicht immer so schlimm kommen wie 2008 in Tennessee, USA. Dort brach der Damm einer Deponie neben dem Kohlekraftwerk Kingston, und 4 Millionen Kubikmeter mit toxischen Schwermetallen belasteter Schlamm aus Asche verseuchten die Umgebung und einen nahe gelegenen Fluss.

In Deutschland wurde zur Bewältigung der Ewigkeitslasten der Steinkohle eine Stiftung gegründet, deren Mittel aber voraussichtlich nicht ausreichen werden. Für die Braunkohle gibt es einen solchen Fonds bislang nicht. Höchstwahrscheinlich werden die Folgekosten der Braun- und Steinkohleförderung in der Zukunft auch mit Steuergeldern bezahlt werden müssen.  

Menschenrechte: Unterdrückt und vertrieben

$
0
0

Wenn die Kohlekonzerne kommen, droht der lokalen Bevölkerung Umsiedlung und Repression. Freiwillige Standards helfen wenig. Ein Kapitel aus dem Kohleatlas.

Bergbauunternehmen werden häufiger als andere Industriezweige mit dem Vorwurf konfrontiert, die Menschenrechte zu verletzten. John Ruggie, von 2005 bis 2011 UN-Sonderbeauftragter für Menschenrechtsverletzungen durch Wirtschaftsunternehmen, gab bekannt, dass sich 28 Prozent aller Beschwerden gegen Bergbau- und Erdöl-/Erdgasfirmen richteten. Bei der Kohleförderung unter Tage, so die Betroffenen, seien insbesondere die Sicherheitsvorkehrungen und die Arbeitsbedingungen unwürdig. Bei den Tagebauen wird Ruggie zufolge moniert, dass das Menschenrecht auf Nahrung und Wasser verletzt werde und die Menschen nicht ausreichend gegen erzwungene Umsiedlungen geschützt seien.

Wegen des Kohletagebaus verlieren sie Ackerland, Weiden und Jagdgebiete. In Mosambik haben Unternehmen aus Brasilien, Großbritannien und Indien zwischen 2009 und 2012 mehr als 2.500 Haushalte umgesiedelt. Diese erhielten unfruchtbares, wasserarmes Land, auf dem sie kaum noch Nahrungsmittel produzieren können. Ein weiteres Problem ist das Grubenwasser, das hochgepumpt und unbehandelt abgeleitet wird. Durch die gelösten Salze aus dem Erdinnern kann es vollkommen unbrauchbar und noch zusätzlich mit Maschinenöl kontaminiert sein. So droht es, das Grund- und Oberflächenwasser einer Region zu verschmutzen.

In Bangladesch sind durch die geplante Phulbari Coal Mine im Nordwesten des Landes 130.000 Menschen von der Umsiedlung bedroht. 220.000 Menschen müssen fürchten, kein sauberes Wasser mehr zu haben. Seit der Veröffentlichung der Pläne demonstrieren Bewohnerinnen und Bewohner der Region gegen das Vorhaben. 2006 töteten die Bangladesh Rifles, eine paramilitärische Gruppe, drei Menschen und verletzten über 100 weitere. Jedes Jahr erinnern Aktivistinnen und Aktivisten an die Opfer. 2012 verbot die Regierung dort Versammlungen von mehr als vier Personen, um die Bewegung einzudämmen.

In Kolumbien, Indonesien und Südafrika, so die Vorwürfe, lassen Unternehmen ihre Anlagen durch brutale Sicherheitskräfte schützen. Sie gehen mit Gewalt gegen Beschäftigte und protestierende Anwohnerinnen und Anwohner vor. Deren Widerstand wird kriminalisiert, um ihm die Rechtfertigung zu nehmen und ihn zu schwächen. Aktuelles Beispiel: Angehörige von drei Gewerkschaftern, die 2001 in Kolumbien von Paramilitärs ermordet wurden, werfen dem US-Konzern Drummond vor, die Täter als Sicherheitskräfte engagiert zu haben. Bis heute verneint der Konzern seine Verantwortung und hat sogar Anfang 2015 den Anwalt der Opfer in den USA verklagt.

Oft sind indigene Völker vom Bergbau betroffen, etwa in Russland die Teleuten und Schoren. Die Siedlungen der beiden sibirischen Turkvölker sind von Tagebauen umgeben. Staub und Abwässer haben ihre Jagd- und Fischfanggründe zerstört. In Kolumbien wehren sich die Gunadule gegen das gleiche Schicksal, nachdem die Regierung Konzessionen für den Abbau von Kohle an ein südkoreanisches Unternehmen vergeben hat. Konsultationen mit Vertretern der örtlichen Bevölkerung gibt es nicht. Und wenn sie im Vorfeld eines Projektes stattfinden, ist den Ergebnissen nicht zu trauen. Die Versprechen, das Land zu rekultivieren, können sich als unhaltbar herausstellen. Im indischen Jharkhand, wo Steinkohle im Tagebau gewonnen wird, wurden die einstigen Ackerböden zwischengelagert, um später wieder ausgebracht zu werden. Doch nach sechs Jahren hatten sie ihre Fruchtbarkeit vollständig verloren.

Im Kohlebergbau sterben die meisten Menschen, weil Sicherheitsstandards und Arbeitsnormen nicht eingehalten werden, ebenfalls ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Obwohl der Bergbau nur etwa ein Prozent der weltweit Beschäftigten ausmacht, steht dieser Sektor für acht Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle. Längst nicht alle sind offiziell erfasst, erst recht nicht die in den illegalen Kohleminen ­Chinas, Kolumbiens und Südafrikas.

Die Staublunge ist eine weltweit anerkannte Berufskrankheit, aber Russland, Indien und Südafrika veröffentlichen keine Zahlen über Betroffene. Das Gesundheitsministerium in China meldete im Jahr 2010 genau 23.812 Neuerkrankungen an, die Hälfte davon durch den Kohlebergbau verursacht. Eine internationale Forschungsgruppe untersuchte weltweit 260.000 Fälle von Personen, die an Staublunge gestorben waren; 25.000 konnten auf den Einsatz als Kohlebergarbeiter zurückgeführt werden. Bei den nicht tödlichen Verläufen sind viele Missstände bekannt. Erkrankte können nicht mehr arbeiten, und den betroffenen Familien droht Armut. Zwar gibt es einen rechtlichen Anspruch auf Entschädigung durch die Minenbetreiber, doch er muss von einem Arzt bestätigt werden. Selbst dann erfolgen in vielen Fällen die Zahlungen nicht, nicht schnell genug oder nicht in ausreichender Höhe.

Viele Bergbauregionen gehören zu den ärmsten Gebieten ihres Landes, auch in den Industrieländern. In den Appalachen, einem Höhenzug im Osten der USA, liegen Armuts- und Sterblichkeitsrate im Steinkohlerevier deutlich höher als außerhalb. Untersuchungen in mehreren Bergbauländern zeigen, dass Bergbau in erster Linie einer kleinen, meist städtischen Schicht nützt, während die ländliche Bevölkerung unter dem Abbau leidet. Armut führt auch zu Kinderarbeit in Kohleminen. In den 15.000 Anlagen im indischen Bundesstaat Jharkhand arbeiten 400.000 Kinder unter oftmals menschenunwürdigen Bedingungen.

Bergbauunternehmen reagieren durchaus auf die Vorwürfe. Der Verband ICMM, eine Organisation der 21 weltgrößten Bergbauunternehmen, hat Leitlinien für die Achtung der Menschenrechte und der Rechte indigener Völker veröffentlicht. Gegen brutales Sicherheitspersonal wendet sich eine Selbstverpflichtung von neun Staaten, 28 Unternehmen und zehn Nichtregierungsorganisationen. Einige Konzerne verbessern die Gesundheitsversorgung und die Infrastruktur. Aber bisher fehlt es in vielen Ländern an der Möglichkeit oder dem Willen des Staates, den Beschäftigten und der lokalen Bevölkerung den wichtigsten Schutz zu garantieren – Rechtssicherheit.  

Arbeit: Jobs ohne Zukunft

$
0
0

Obwohl die Kohleförderung noch zunimmt, verliert der Sektor fortlaufend Arbeitsplätze. Der Strukturwandel hat alle Kontinente ergriffen. Doch bis heute haben die Kohlekumpel unter Tage einen der gefährlichsten Berufe überhaupt.Ein Kapitel aus dem Kohleatlas.

Rund sieben Millionen Menschen waren 2012 weltweit in der Kohleindustrie beschäftigt, die meisten davon im Stein- und Braunkohlebergbau. Die Zahl dürfte 2015 niedriger liegen. Vor allem China baut Arbeitsplätze ab. Das weltgrößte Förderland beginnt, seine gewaltigen Vorkommen effizienter auszubeuten. Noch braucht das Land im Vergleich zu den USA ein Vielfaches an Arbeitskräften. In den USA mit ihren modernen Maschinen und optimierten Arbeitsabläufen bauten 2013 etwa 90.000 Menschen vor allem in Tagebauen 0,9 Milliarden Tonnen Kohle ab. In China wurden 5,7 Millionen Menschen für 3,7 Mil­liarden Tonnen benötigt, überwiegend unter Tage. Und in den USA fielen allein 2013 noch einmal 10.000 Jobs weg, auch weil der Schiefergasboom die Kohleproduktion unrentabel macht.

Weil in China und Indien die Produktivität von sehr niedrigem Niveau aus zügig steigt, werden dort immer weniger Menschen beschäftigt. So ließ die chinesische Regierung Tausende kleine, ineffiziente Minen schließen. Auch Indien braucht immer weniger Arbeiter, um dieselbe Menge an Kohle zu produzieren. Coal India Limited baute seine Belegschaft zwischen 2005 und 2014 von 500.000 auf 350.000 ab. Zugleich nahm die Förderung dieses staatlich kontrollierten Betriebes um mehr als ein Drittel zu. Außerdem haben Indien und China für den eigenen Bedarf in australische Kohleminen investiert. Dies und die umfangreichen Kohleimporte dorther haben dazu geführt, dass Australien zu den wenigen Ländern gehört, in denen die Beschäftigung in ­dieser Branche wächst.


Auch in der EU fallen jedes Jahr Tausende Jobs weg. 2008 arbeiteten noch 342.000 Kumpels in Zechen und Tagebauen, 2013 nur noch 328.000. Auch in Tschechien, das stark von der Kohle abhängt, sind in der Kohle immer weniger Menschen beschäftigt. Mit einiger Verspätung beginnt selbst in Polen, das den größten Teil seiner Energie aus Kohlekraftwerken bezieht, der Strukturwandel. In Großbritannien ist der Ausstieg fast abgeschlossen: 2016 werden vermutlich nur noch zwei Zechen aktiv sein, eine Altanlage und eine Neugründung, beide im Besitz der Belegschaft.

Im deutschen Steinkohlebergbau hatten 1950 noch fast 600.000 Menschen gearbeitet, davon 360.000 unter Tage. Heute sind es 12.100, und im Jahr 2018 soll ganz Schluss sein. Im Braunkohletagebau sanken die Zahlen von 130.000 im Jahr 1990 auf heute 21.000, die dort direkt arbeiten, also Kohle abbaggern oder in Kraftwerken verstromen.

Während der Kohlebergbau weltweit als Arbeitgeber an Bedeutung verliert, werden die erneuerbaren Energien wichtiger. Dort waren 2013 direkt oder indirekt 6,5 Millionen Menschen beschäftigt, 800.000 mehr als 2012. Diesen Angaben der Internationalen Agentur für Erneuerbare Energien zufolge dürften beide Branchen heute auf ähnlichem Level liegen. In Deutschland und der EU liegen die
Erneuerbaren schon vorne. In den Entwicklungs- und Schwellenländern wird allerdings oft nur der Kohlebergbau selbst untersucht, nicht aber Projektentwicklung, Transport und Kraftwerksbetrieb. In vielen Fällen ist zudem unklar, was alles zu den indirekten Jobs zählt.
Zumindest Trends lassen sich aber aus den Zahlen ablesen. China ist weltweit der Antreiber bei den erneuerbaren Energien. Sie beschäftigten dort im Jahr 2013 bereits über 2,6 Millionen Menschen. Neue Jobs gibt es vor allem durch den Zuwachs bei der Installation und der Herstellung der Anlagen. Brasilien folgt mit etwa 900.000 Jobs, die USA mit 600.000, Indien mit 400.000. Deutschland belegt Platz fünf. Seit 2004 hat sich die Beschäftigung in der Erneuerbaren-Branche verdoppelt. 2013 waren es über 370.000. Zum Vergleich: Die Braunkohleindustrie weist 70.000 direkte und indirekte Arbeitsplätze aus.

Die Arbeitsbedingungen im Erneuerbaren-Sektor schneiden insgesamt besser ab als die in der Kohlewirtschaft, wenngleich es auch dort Risiken gibt, etwa in den chemischen Betrieben, die Solarzellen herstellen. Doch die Beschäftigten in den Kohleminen riskieren ihre Gesundheit und ihr Leben deutlich mehr. Der Kohlenstaub setzt sich in den Lungen fest und führt zu chronischen Lungenkrankheiten. Bergwerksunfälle gehören wegen der dramatischen Umstände und der hohen Opferzahlen zu den intensiv ­wahrgenommenen Katastrophen. Nach 150 Jahren Erfahrung unter Tage gibt es kaum eine Branche, bei der die Kenntnisse und Vorschriften über Unfallverhütung so ausgereift sind wie in der Kohleindustrie. Wenn dennoch Unglücke passieren, zeigt sich fast immer, dass aus Kostengründen oder Nachlässigkeit die Sicherheitsstandards für die dort Arbeitenden nicht eingehalten wurden oder die technischen Anlagen versagten.

In China, zeitweilig für 80 Prozent aller weltweiten Todesopfer im Kohlebergbau verantwortlich, bessert sich die Situation. Die kleinen Minen, die geschlossen werden, sind auch die besonders gefährlichen. In den 1990er-Jahren starben jedes Jahr 5.000 bis 7.000 Kumpels. 2010 waren es noch 2.400 Menschen. 2014 soll die Zahl auf 930 gefallen sein.

Als Sinnbild für die Arbeit im Bergbau hält sich in den westlichen Industrieländern noch immer der hart arbeitende, mit Ruß verschmierte Kohlekumpel. Meist liegt der Frauenanteil auch unter 20 Prozent. In den vormals sozialistischen Ländern hingegen arbeiten mehr Frauen unter Tage. In vielen Teilen der Welt ist es nicht einfach für sie, in der Kohleindustrie Arbeit zu bekommen. Wenn sie es schaffen, werden sie schlechter bezahlt als Männer und müssen in den Minen sexuelle Übergriffe befürchten.

Einer Studie von Greenpeace über nachhaltige Energiepolitik zufolge werde der Kohlesektor bis 2030 weltweit weitere zwei bis drei Millionen Jobs verlieren. Die Erneuerbaren-Industrie wachse schnell genug, um solche Verluste zu kompensieren. In Reparaturberufen wurden 2014 im deutschen Steinkohlebergwerk Ibbenbüren noch einmal 54 Auszubildende eingestellt. Es war der letzte Jahrgang.   

Finanzierung: Big Player im Verborgenen

$
0
0

Der Bau von Minen, Kraftwerken und Infrastruktur kostet Milliarden. Das können sich viele Länder nicht leisten. Dann steigen staatliche und private Banken ein. Ein Kapitel aus dem Kohleatlas.

Baut ein deutsches Unternehmen ein Kohlekraftwerk in einem Entwicklungsland, sind damit erhebliche finanzielle Risiken verbunden, auch für so große Konzerne wie Bilfinger, Siemens, Alstom oder ThyssenKrupp. Der Bau ist teuer – große Kohlekraftwerke können durchaus über eine Milliarde Euro kosten –, und er macht enorme Vorleistungen nötig. Die Abwicklung kann sich um Jahre verzögern. Die Auftraggeber, staatliche oder private Stromfirmen, können in Zahlungsschwierigkeiten geraten. In manchen Fällen führen politische Krisen dazu, dass die Montage einer Anlage abgebrochen werden muss.

Um solche Risiken für die herstellenden Firmen und die finanzierenden Banken zu senken, haben viele Regierungen Exportkreditversicherungen eingeführt. In Deutschland heißen sie umgangssprachlich "Hermes-Bürgschaften", nach einer Gesellschaft der Allianz-Versicherung, die diese Aufgabe im Auftrag des Staates übernimmt und das Segment dominiert. Zusätzlich stützen Förderkredite etwa der staatlichen Bankengruppe KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau) den Export von Bergwerksausrüstungen und Kraftwerken. Die Risikoabsicherung und die Zinsvorteile führen dazu, dass die Hersteller ihre Lieferungen günstiger anbieten können.

Dabei ist die Förderung von Kohleprojekten als Instrument der Entwicklungszusammenarbeit umstritten. Einer-seits sollen neue Kohlekraftwerke dabei helfen, Armut in den Entwicklungsländern zu bekämpfen und Zugang zu Energie zu verschaffen. Andererseits laufen die fossilen Kraftwerke dem Klimaschutz zuwider und blockieren den Ausbau der erneuerbaren Energien. Zudem geht der Kohlebergbau in den Entwicklungsländern häufig mit der Zerstörung der Umwelt, mit Verletzungen der Menschenrechte und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen einher.

Die Industrieländer fördern den Export großzügig. Von 2007 bis 2013 haben sie mit Versicherungen, Bürgschaften und Krediten in Höhe von 36 Milliarden US-Dollar Kohleprojekte unterstützt. Japan führt als größter Finanzierer die Liste mit 16,8 Milliarden US-Dollar an, gefolgt von den USA und Deutschland (7,2 bzw. 4,8 Milliarden US-Dollar). Größtes Empfängerland weltweit war zuletzt Süd­afrika. Für den Bau mehrerer großer Kohlekraftwerke erhielt es drei Milliarden US-Dollar. Die günstigen Kredite kamen ab 2008 vor allem aus Frankreich, Sitz des Maschinenbaukonzerns Alstom, an den ein großer Teil der Aufträge ging. Mit solchen Finanzierungspaketen bewerben sich Firmen oft schon bei der Ausschreibung. Neben den Industrieländern beteiligt sich inzwischen auch China an diesem Geschäft, von 2007 bis 2013 mit 6,1 Milliarden US-Dollar. Bereits seit 2004 hatte die Exportkreditagentur China Exim-Bank den Bau mehrerer Kohlekraftwerke in Indien im Volumen von 2,8 Milliarden US-Dollar subventioniert.

Die meisten der Mittel fließen in den Kraftwerksbau. Doch Länder wie Russland, Kanada und Italien finanzieren mit ihren Exportkrediten vornehmlich die Erschließung neuer Kohleminen. Angeführt von den USA und Japan sind seit 2007 hierfür rund 12,9 Milliarden US-Dollar geflossen. Obwohl Exportkredite ursprünglich als Absicherung von Geschäften auf unsicheren Märkten vorgesehen waren, wurden sie in den vergangenen Jahren auch für die Erschließung von Kohleminen in stabilen Ländern wie den USA und Australien vergeben.

Neben den nationalen Kreditagenturen spielen auch die internationalen Entwicklungsbanken eine wichtige Rolle. Von 2007 bis 2013 haben sie Kohleprojekte mit 13,5 Milliarden US-Dollar unterstützt. Größte Geldgeberin war die Weltbank mit 6,5 Milliarden US-Dollar; bei den Regionalbanken lag die Afrikanische Entwicklungsbank mit 2,8 Milliarden US-Dollar an der Spitze. Rund 90 Prozent aller Mittel flossen in den Neubau von Kraftwerken, der Rest in den Bergbau und die Modernisierung alter Kraftwerke.

Seit 2010 ist die Finanzierung von Kohleprojekten wegen der anhaltenden Kritik stark rückläufig. Seit 2013 haben drei Entwicklungsbanken – die Weltbank, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und die Europäische Investitionsbank – festgelegt, keine weiteren Kohleprojekte zu finanzieren – oder nur als seltene Ausnahmen. Auch einzelne Länder ziehen sich zurück. Seit 2013 fördert die Export-Import Bank der USA – mit einigen Ausnahmen – keine Kohlekraftwerke mehr. In Europa haben dies Frankreich, die Niederlande, Großbritannien und einige skandinavische Länder angekündigt. Deutschland tut sich schwer damit. Zwar beendet auch die KfW Entwicklungsbank ihre jahrelange Praxis, neue Kohlekraftwerke mit Exporthilfen zu fördern. Doch ihre Tochtergesellschaft IPEX wird weiterhin Kohleprojekte finanzieren, wenn, so die Auflage, im Empfängerland eine Klimaschutzpolitik existiert.

Kommerzielle Banken, in deren Tagesgeschäft Regierungen kaum hineinreden können, spielen für Kohleprojekte weltweit eine noch wichtigere Rolle als die öffentlichen Geldgeber. Von 2005 bis 2014 summiert sich die Finanzierung von Kohleprojekten auf 500 Milliarden US-Dollar. Allein die 20 größten Banken haben 73 Prozent der Kredite vergeben.

In der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) verhandeln derweil die Mitgliedsländer über die Verschärfung der Umwelt- und Sozialstandards, die die nationalen Agenturen bei der Vergabe von Exportkrediten anwenden. Größter Streitpunkt ist die Finanzierung von Kohleprojekten. Die USA und weitere Länder fordern, dass diese künftig ausgeschlossen wird. Darüber hinaus geht es in den Verhandlungen um mehr Transparenz. Bislang informieren die Exportkreditagenturen nur unregelmäßig über ihre Geschäfte. Geht es nach ihren Kritikerinnen und Kritikern, sollen die Agenturen künftig zeitnah veröffentlichen, wer wen mit welchen Mitteln fördert.  

CO2-Verpressung: Probleme aus der Tiefe

$
0
0

Die Industrie verspricht "saubere Kohle" und will CO2-Emissionen unterirdisch lagern. Doch die Idee, damit die Klimakrise zu lösen, scheitert technisch und wirtschaftlich. Ein Kapitel aus dem Kohleatlas.

In Politik und Wirtschaft wird seit einigen Jahren ein technisches Verfahren präsentiert, um Kohlekraftwerke klimafreundlicher zu machen: das "Carbon Capture and Storage" (CCS). Es bedeutet, die CO2-Emissionen (carbon) aus Kraftwerken oder Industrieprozessen aufzufangen ­(capture) und in geologischen Formationen tief unter der Erde zu speichern (storage). Auch Teile der Wissenschaft und der Umweltbewegung hoffen, dass sich mit CCS die Zunahme von Kohlendioxid in der Atmosphäre bremsen, vielleicht gar wieder reduzieren lässt. In vielen vom Weltklimarat präsentierten Szenarien ist die Einhaltung des Zwei-Grad-Limits nur noch unter der Annahme wahrscheinlich, dass CCS zum Einsatz kommt. Genau das aber könnte sich als fataler Trugschluss erweisen. Es ist bereits zu erkennen, dass die noch in Entwicklung befindliche Technologie nicht ermöglichen kann, was sie ermöglichen soll.

So können bisher nur 85 bis 90 Prozent des CO2 aus Kraftwerken aufgefangen werden. Der Energieaufwand, der dafür in einem Kraftwerk aus der eigenen Leistung heraus aufgebracht werden muss, bedeutet einen Effizienzverlust von elf bis 15 Prozent und senkt den Wirkungsgrad damit von 35 auf 30 Prozent ab – und damit auf den Stand der 1980er-Jahre. Es müsste bis zu einem Drittel mehr Kohle verfeuern, um dieselbe Menge Energie zu erzeugen. Mit dem kom­merziellen Einsatz von CCS würden sich folglich auch die negativen Umweltfolgen des Kohleabbaus verstärken.

Als Speicher für das abgeschiedene CO2 können entleerte Öl- und Gaslagerstätten dienen. Die CO2-Verpressung wird vor allem in den USA und Norwegen seit Jahren eingesetzt, um die Ausbeute von Ölfeldern zu erhöhen. Ein weitaus größeres, aber umstrittenes Speicherpotenzial sind poröse, mit stark salzhaltigem Wasser gefüllte Gesteinsformationen, die mit einem undurchlässigen Deckgestein abgeschlossen sind, sogenannte saline Aquifere.

Ein solches CCS-Projekt startete der norwegische Energiekonzern Statoil 1996 im Sleipner-Gasfeld in der Nordsee. Weil der CO2-Gehalt des dort geförderten Erdgases zu hoch ist, scheidet Statoil vor Ort jährlich knapp eine Million Tonnen des Gases ab und presst es in Gesteinsformationen oberhalb des Gasfeldes, um die Zahlung von hohen CO2-Steuern zu vermeiden.

Doch es ist nicht sicher, ob Lagerstätten langfristig dicht bleiben, ob Gas diffus austreten kann, oder ob die Verschlüsse der Bohrlöcher angegriffen werden. Wenn es zu einer Eruption in größeren Mengen kommt, wären Menschen und andere Lebewesen gefährdet. Ferner kann bei salinen Aquiferen das vom CO2 verdrängte Salzwasser in höhere ­Gesteinsschichten aufsteigen, ins Grundwasser gelangen, es verunreinigen und versalzen.

Bisher gibt es weder eine Technik zur Überwachung der CO2-Speicherstätten, mit der sich Leckagen systematisch aufdecken ließen, noch erprobte Verfahren, um solche Schäden zu beheben. Ein Vorzeigeprojekt in In Salah in Algerien wurde 2011 eingestellt, weil Bedenken wegen der Speichersicherheit aufkamen. Aufgrund der Kosten, die sich für ein größeres Kraftwerk auf mehrere Milliarden Euro summieren würden, und der technischen Schwierigkeiten gibt es bislang weltweit kein CCS-Kohlekraftwerk, das CO2 im nennenswerten Umfang abscheidet. Das einzige Projekt ist ein kleiner Kraftwerksblock in Kanada, der mit Steuergeldern unterstützt wurde, um die Fördermenge in einem Ölfeld zu erhöhen. Das Großvorhaben FutureGen in den USA für über 1,6 Milliarden Dollar wurde 2015 abgesagt.

Technisch existieren mehrere CCS-Verfahren. Für die Abscheidung des CO2 kann das Gas nach Verbrennung der Kohle mit chemischen Lösungen aus dem Abgasstrom "he­rausgewaschen" werden. Ein zweites Verfahren setzt auf das Prinzip der Kohlevergasung und die Abscheidung des CO2 noch vor der Verbrennung. Bei der dritten Methode wird Kohle unter reinem Sauerstoff verbrannt, um das CO2 leichter aus dem Abgasstrom abzuscheiden. Rein technisch eignet sich CCS eher für die Stahl- und Zementindustrie,
weil sie prozessbedingt CO2 schlechter vermeiden können.

Trotz aller Misserfolge dient das Versprechen der "sauberen Kohle" noch immer als Rechtfertigung für den Bau neuer Kohlekraftwerke. Das verlängert den Fortbestand des fossilen Geschäftsmodells und bremst den Umstieg auf erneuerbare Energien – auch weil CCS-Kraftwerke noch unflexibler als herkömmliche Kohlekraftwerke auf Nachfrageschwankungen reagieren können.

Manche Kohlekraftwerke, die wie das britische Kraftwerk Drax neben Kohle auch Holz verbrennen, sollen über sogenannte BECCS-Verfahren (Bioenergy with CCS) sogar negative Emissionen erreichen. Die Idee: Bäume nehmen beim Wachsen aus der Atmosphäre CO2 auf. Werden sie verfeuert, wird dieses CO2 mit CCS dem Kreislauf entzogen. Fachleuten zufolge geht diese Rechnung nicht auf. Denn die im großen Maßstab angelegten Monokulturen mit schnell wachsendem Holz würden nicht nur intakte Wälder verdrängen, sondern auch sehr viel weniger CO2 speichern.

Zudem ist fraglich, ob sie so viel CO2 aufnehmen, wie durch Düngemitteleinsatz, Holzverarbeitung, Transport sowie die Zerstörung intakter Böden frei wird. Zusätzlich würde BECCS den Druck auf die weltweiten Bodenflächen weiter erhöhen, wenn sich Investoren im großen Stil Land für den Anbau von Biomasse aneignen. Kritiker weisen im Zusammenhang mit diesem "Land Grabbing" immer wieder auf die Verletzung traditioneller Nutzungsrechte und die Schlechterstellung der lokalen Bevölkerung hin, denen landwirtschaftliche Flächen zur Deckung des eigenes Bedarfs verloren gehen.  

Downloads zum Kohleatlas

$
0
0

Der Kohleatlas liegt in einer gedruckten Version vor, als PDF und als Online-Dossier. Alle Grafiken und Texte stehen unter einer offenen Creative Commons Lizenz. Das heißt: Sie können unter Einhaltung dieser Bedingungen alle Inhalte des Atlas weiterverwenden, bearbeiten,veröffentlichen

Unter der Lizenz dürfen Sie also:

  • Teilen— das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten
  • Bearbeiten— das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Und das unter folgenden Bedingungen:

  • Namensnennung— Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.
  • Weitergabe unter gleichen Bedingungen— Wenn Sie das Material remixen, verändern oder anderweitig direkt darauf aufbauen, dürfen Sie Ihre Beiträge nur unter derselben Lizenz wie das Original verbreiten.

Eine mögliche richtige Referenzierung der Lizenz lautet z.B.

Wir freuen uns außerdem über einen Link auf die Webseite der Originalquelle.

Grafiken zum Download:
Download des Kohleatlas:

Proteste: Breites Bündnis mit langem Atem

$
0
0

Gegen Kohleabbau und neue Kraftwerke wehren sich Betroffene überall auf der Welt. Sie müssen mit Repression, Schikanen und Gewalt rechnen – und manchmal sind sie auch erfolgreich. Ein Kapitel aus dem Kohleatlas.

Internationale Umweltorganisationen wie Friends of the Earth und Greenpeace protestieren seit 30 Jahren gegen den Raubbau an der Natur und den Abbau von Kohle. Auch an der Basis wehren sich die Menschen. Dazu gehört der Kampf der Wayúu-Gemeinschaft im kolumbianischen Tamaquito gegen die riesige Steinkohlemine El Cerrejón, die Gesundheitskampagne von Graswurzel-Aktiven gegen zwei innerstädtische Kohlekraftwerke in Chicago oder auch das erfolgreiche Aufbegehren des Stadtparlaments der chinesischen Großstadt Shenzhen gegen ein 2.000-Megawatt-Kohlekraftwerk.

Die größten sichtbaren Proteste gibt es im Süden, wo die Kohle-Energie schnell ausgebaut wird. In Bangladesch und Indien, in China, Malaysia und auf den Philippinen gehen Menschen auf die Straße. Im größten Kohlegebiet Chinas, in der Inneren Mongolei, blockieren Bäuerinnen und Bauern Kohletransporte und riskieren ihr Leben. In den Metropolen demonstrieren die Menschen gegen den Smog. In Indien, dessen Regierung die Kohleverstromung wie kein anderes Land ausbaut, demonstriert eine nationale Allianz des Widerstandes mit Hungerstreiks und Protestmärschen. Dafür werden die Aktiven gegängelt, eingesperrt und bedroht.

In Australien, dem größten Kohle-Exporteur der Welt, will eine Allianz aus Aborigines, Farmern und Farmerinnen, Kirchenleuten, Ärztinnen und Umweltgruppen den Neu- und Ausbau von Kohlehäfen verhindern, die auch das Great Barrier Reef bedrohen. Die neuen Hafenbecken werden auch gebraucht, um Kohleminen im Landesinnern neu zu erschließen oder zu erweitern. Kleine Erfolge machen Mut: Der Schlamm, der aus den Erweiterungsflächen des Hafens Abbot Point herausgepumpt wurde, darf jetzt nicht mehr im Meer an den Riffen verteilt, sondern muss an Land deponiert werden. Doch der Verkehr von Kohlefrachtern wird steil ansteigen. Die in ganz Australien tätige Protestbewegung Lock the Gate Alliance protestierte auch in New ­South Wales. Die dortige Mine Maules Creek soll zum größten Tagebau Australiens werden. Von 2012 an ketteten sich Aktive über eineinhalb Jahre hinweg immer wieder an Eingänge zur Baustelle, was zu Hunderten Festnahmen führte. Zuletzt beschränkten die Behörden den Ausbau.

Alarmiert durch steigende Gaspreise veröffentlichte das US-Energieministerium 2007 eine Liste mit 151 Kohlekraftwerken, die neu gebaut werden sollten. Seither kämpfen Umweltorganisationen für ein Moratorium. 104 Projekte dieser Liste waren 2013, einer Übersicht zufolge, bereits wieder abgesagt oder ausgesetzt. Der Erfolg liegt auch an der breiten Argumentation: Ins Feld geführt werden neben dem Klimawandel vor allem die Gesundheitsprobleme durch Feinstaub und Quecksilber sowie die Folgen für die Umwelt: Bergspitzen würden abgetragen, Wälder gerodet und Wasserläufe verschmutzt. 2014 kam es in West Virginia und North Carolina zu Massenprotesten, weil giftige Substanzen aus dem Bergbaubetrieb in Flüsse eingeleitet wurden und Hunderttausende über Wochen ohne Trinkwasser blieben.

In England fand im Jahr 2006 unweit des Kohlekraftwerks Drax in Yorkshire das erste Klimacamp statt. Von dort aus versuchten rund 600 Aktive, auf das Kraftwerksgelände zu gelangen, um den Betrieb zu unterbrechen. Die Aktion war von hohem symbolischen Wert und stieß bei den Medien auf großes Interesse. Wegen der enormen Emissionen besetzten Greenpeace-Mitglieder drei Jahre lang immer wieder die Zufahrt zum Kohlekraftwerk Kingsnorth an der Themse-Mündung. 2012 musste es wegen neuer EU-Grenzwerte schließen. Dass der deutsche Energiekonzern E.ON auch seine Pläne für einen Neubau an gleicher Stelle aufgab, sieht Greenpeace als großen Erfolg der Kampagne. Auch wenn die britische Anti-Kohle-Bewegung nach der Wirtschafts- und Finanzkrise an Fahrt verlor, hatte ihre besondere Aktionsform langfristig Erfolg. Die Klimacamps mit ihrer Mischung aus Aktionen, Informationen und Diskussionen expandierten nach Skandinavien, Belgien, den Niederlanden, in die USA, nach Südafrika und Deutschland.

In Deutschland gibt es seit Jahrzehnten Proteste gegen Kohle, jedoch beschränkt auf lokale und regionale Initiativen. Erst ab etwa 2006, als in Deutschland wieder etliche neue Kohlekraftwerke geplant wurden, nahmen die Proteste zu. Umweltverbände wie der BUND und die Deutsche Umwelthilfe versuchten in den Folgejahren, die Projekte juristisch zu stoppen. Mit Erfolg: 22 Kohlekraftwerke wurden verhindert, viele per Gerichtsbeschluss, aber immer durch gemeinsamen öffentlichen Druck. Hauptargumente hier: Klimaschutz und Energiewende, aber auch die mangelnde Wirtschaftlichkeit.

2007 entstand die Klima-Allianz, ein breites Bündnis – selbst Entwicklungsorganisationen wie Brot für die Welt, Oxfam oder die Kirchen nahmen nun den Kohleausstieg auf die Agenda. 2008 begann ihre Anti-Kohle-Kampagne. Zugleich organisierten in Hamburg radikale Linke unter dem Motto "Für ein ganz anderes Klima" ein Klimacamp, das sich gegen die "CO2-Ökonomie" wandte. Es endete mit der kurzzeitigen Besetzung der Baustelle des Kohlekraftwerks Moorburg und einer Demonstration mehrerer Hundert Aktivistinnen und Aktivisten.

Seit 2011 finden in den Kohlehochburgen Rheinland und Lausitz dezentrale, aber auch große, international ausgerichtete Aktionen statt. Im August 2014 mobilisierten Campact und Greenpeace eine acht Kilometer lange Menschenkette mit 7.500 Teilnehmenden aus ganz Europa, die durch das Abbaugebiet an der deutsch-polnischen Grenze führte. Im April 2015 bildeten 6.000 Aktive eine Menschenkette im Rheinland, quer durch das Erweiterungsgebiet des Tagebaus Garzweiler, und markierten symbolisch eine Grenze, über die die Bagger nicht hinauskommen sollen.

Dass bei der Kohle eine Massenbewegung wie die gegen Atomkraftwerke entsteht, ist dennoch eher unwahrscheinlich. Die Kohle ist in Regionen, in denen viele Menschen von ihr leben, stark verankert, besonders in der strukturschwachen Lausitz. Von der Anti-Atom-Bewegung wird die Anti-Kohle-Bewegung dennoch lernen müssen, glauben einige Aktive. Großes Vorbild sind die Castor-Blockaden – sowohl was die vielfältigen Formen des Protestes als auch die Ausdauer betrifft.  

Preisgestaltung: Verdeckte Subventionen, offene Rechnungen

$
0
0

Die Kohleindustrie senkt durch Steuergelder ihre Preise – und zahlt nicht für die Kosten von Klimawandel und Erkrankungen. In Umrissen zeichnet sich das Ausmaß ab. Ein Kapitel aus dem Kohleatlas.

Von den Befürworterinnen und Befürwortern der Kohle heißt es oft, dass damit kostengünstig Energie erzeugt wird. Das ist jedoch nicht so einfach, wie es die Kohleindustrie bisweilen suggeriert. Denn es kommt darauf an, welche Kosten in die Rechnung eingeschlossen werden und wer dafür bezahlen muss.

In den Strompreis werden die betriebswirtschaftlichen Aufwendungen der Energieversorger sowie Steuern und Abgaben aufgenommen. Doch es gibt Faktoren, die nicht in den Preis hineingerechnet werden und die deswegen auf keiner Stromrechnung auftauchen. Das sind die sogenannten externalisierten Kosten. Solche „Verlagerungen nach außen“ entstehen, wenn ein Marktakteur das Wohlergehen eines Nicht-Marktakteurs beeinträchtigt, ohne ihn dafür zu entschädigen. Mit anderen Worten: Die Verursacher tragen nicht die vollen Kosten ihres wirtschaftlichen Handelns. Sie streichen Gewinne ein, ein Teil der Kosten wird jedoch auf unbeteiligte Dritte oder die Gemeinschaft abgewälzt.

So ist es bei der Kohle. Ihre Förderung und Verbrennung erzeugt immense externalisierte Kosten. Die größten Blöcke sind die staatlichen Subventionen, die ökologischen Schäden und die gesundheitliche Beeinträchtigung von Menschen. Von „billiger Kohle“ kann keine Rede sein.

Emissionen von Treibhausgas und Luftverschmutzung sind Umweltkosten. Um sie zu kalkulieren, kann nicht wirklich gerechnet, sondern es muss verhandelt werden. Es geht um das Ausmaß von Schäden, die zumindest teilweise nicht wieder rückgängig zu machen sind. Es werden nicht etwa Werte für den Verlust von Ökosystemen zugrunde ­gelegt, z. B. durch den Klimawandel, sondern die Verluste bei der Wirtschaftsleistung. Hinzu kommen die Kosten für die ­Schadensbeseitigung etwa nach einem großen Unfall, aber auch nur in begrenztem Umfang, damit die Unternehmen nicht in den Bankrott getrieben werden.

Es sind somit politische Zahlen, mit denen beispielsweise die britische Beratungsfirma Trucost das UN-Umweltprogramm (UNEP) beliefert. Die Angaben sind mit Vorsicht zu behandeln, aber auch wenn sie nur die Spitze des Eisberges zeigen, sind sie enorm. Trucost zufolge beliefen sich die externalisierten Kosten der Kohleverstromung allein in Ostasien im Jahr 2009 auf 452 Milliarden US-Dollar. Sie sind vor allem auf Treibhausgas-Emissionen und Luftverschmutzung zurückzuführen. In Nordamerika waren es im gleichen Jahr 316 Milliarden Dollar. In Deutschland summieren sich die durch Luftverschmutzung und Treibhausgase verursachten Kosten auf gut 28 Milliarden Euro – mehr, als für die Förderung der erneuerbaren Energien ausgegeben wird.

Das Umweltbundesamt hat die Umweltkosten für Braunkohle auf rund elf Eurocent pro Kilowattstunde beziffert, für Steinkohle auf rund neun. Würden diese im Strompreis abgebildet, müsste der Strompreis entsprechend steigen. Für die USA kalkulieren Forscher, dass jede aus Kohle erzeugte Kilowattstunde Strom sogar 27 US-Cent zu kosten hätte – mehr als doppelt so viel, wie Privatkunden in den USA heute für Strom bezahlen. Müssten die Kohlekonzerne diese externalisierten Kosten internalisieren, wäre Kohle kaum noch wettbewerbsfähig. Dies würde helfen, Kohle aus dem Markt zu verdrängen.

Damit wären allerdings weder die Opfer des Klimawandels noch die durch Luftverschmutzung Erkrankten für ihr Leid entschädigt. Hier müssen Kohlekonzerne nicht nur zur finanziellen, sondern auch zur rechtlichen Verantwortung gezogen werden. Zudem wären ein öffentliches Schuldeingeständnis und eine Entschuldigung bei den Opfern angebracht. Beides ist für die Kohleindustrie tabu.
Dass Kohle billig scheint, liegt auch an den Subventionen aus Steuergeldern – historischen und aktuellen. Denn Energiekonzerne profitieren heute noch von den in der ­Vergangenheit erhaltenen öffentlichen Mitteln. 2014 hat die deutsche Beratungsfirma Ecofys beeindruckende Zahlen für die Europäische Kommission zusammengetragen: Zwischen 1990 und 2007 wurde der Ausbau der Kohle-Infra­struktur von den heutigen 28 EU-Mitgliedsstaaten mit insge­samt 200 Milliarden Euro subventioniert. Nur die Atomin­dustrie bekam mit 220 Milliarden Euro noch mehr. Von 100 Milliarden Euro für Wasserkraft abgesehen, wurden erneuerbare Energien auf diese Art nicht direkt subventioniert.

Staatliche Subventionen sorgten und sorgen auch dafür, dass heimische Kohle wettbewerbsfähig bleibt. Zwischen 1970 und 2007 war das den EU-Staaten 380 Milliarden Euro wert. Spitzenreiter bei diesen Finanzspritzen ist Deutschland. Unter anderem fließen aus dem Bundeshaushalt 2015 rund 1,2 Milliarden Euro als direkte Finanzhilfe in den Steinkohlebergbau. Das Land Nordrhein-Westfalen schießt eine weitere halbe Milliarde Euro pro Jahr zu. Diese Subvention der Steinkohle wird 2018 eingestellt.

Für die Erforschung und Entwicklung von Brennstoffen gaben die EU-Staaten zwischen 1974 und 2007 rund 108 Milliarden Euro aus. Den Löwenanteil von 78 Prozent erhielt die Nuklearforschung, zwölf Prozent wurden in erneuerbare, zehn Prozent in fossile Brennstoffe investiert, wobei die ­Forschung an der Kohle mehr erhielt als die an Gas und Öl. 2012 verteilten die EU-Mitgliedsstaaten insgesamt 13,4 Milliarden Euro Subventionen an die fossile Industrie. Inwiefern Umlagen aus dem deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetz als Subventionen zu behandeln sind, ist politisch umstritten. Der Staat legt zwar eine Mindestvergütung für die Einspeisung von erneuerbaren Energien fest. Die Umlage selbst wird aber nicht aus Steuermitteln bezahlt, sondern mit der Stromrechnung.

2009 haben sich die Regierungen der 20 größten Industrieländer (G20) dazu verpflichtet, Subventionen für fossile Energieträger mittelfristig auslaufen zu lassen. Der weltweite Umstieg auf erneuerbare Energien wird an Tempo gewinnen, wenn den Worten auch Taten
folgen.  

Energiewende nicht in Sicht

$
0
0
Steinkohletagebau

Alles deutet darauf hin, dass es kaum politischen Willen gibt, eine sachliche Diskussion über die Lösungen der sozialen und wirtschaftlichen Probleme in den Bergbauregionen aufzunehmen. Energiepolitische Konsequenzen des Wahlsieges des nationalkonservativen Andrzej Duda bei der Präsidentschaftswahl in Polen

Neben der Senkung des Rentenalters und der Erhöhung des Steuerfreibetrags, die zu den Hauptparolen in der Wahlkampagne des nationalkonservativen Kandidaten Andrzej Duda gehörten, war auch die Energiepolitik deutlich präsent. Widerstand gegen die europäische Energie- und Klimapolitik, offene Verteidigung der Argumente für die Erhaltung der unrentablen Minen in den schlesischen Regionen sowie Diversifizierung der Gasleitungen – um diese Themen kreisten die Äußerungen des neugewählten Staatspräsidenten. Wird er die energiepolitischen Erklärungen seiner Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) während seiner Amtszeit vertreten, würde dies zusätzlich noch Widerstand gegen Windenergieanlagen und eine wohl marginale Unterstützung von Erneuerbaren Energien bedeuten. Alles spricht dafür, dass in der energiepolitischen Strategie Polens der derzeitige Status quo beibehalten bleibt.

Zugewinne in den Kohleregionen

Aufgrund der sozial-ökonomischen Situation in Polen, angefeuert durch die massiven Proteste in Oberschlesien gegen die Regierungspläne zur Restrukturierung des Bergbaus, tauchten in der Wahlkampagne auch die energiepolitischen Argumente auf. Steinkohle-Subventionen und Schließung von Bergbaugruben haben in dem erfolgreichen Wahlkampf von Andrzej Duda einen sichtbaren Platz eingenommen. Das derzeitige, auf der Kohle-Monokultur großer Kraftwerke basierte Modell der Energiepolitik konnte von ihm bestätigt werden. „Polnische Energiewirtschaft beruht auf Kohle. Und so sollte es auch bleiben“ sprach er zu seinen potentiellen Wählern in Katowice. Die Einschränkung der Kohleverfeuerung wird von Andrzej Duda als größte Gefährdung für den polnischen Energiesektor genannt. Jedoch außer der Deklarationen, alles für die Einhaltung der gefährdeten Arbeitsplätze in den Kohleregionen und für die Modernisierung dieses Sektors tun zu wollen, kamen von ihm keinerlei Vorschläge für konkrete Lösungen zur Rettung der verschuldeten, praktisch bankrotten Bergbauunternehmen, wie etwa der Kompania Węglowa. Äußerungen von ihm wie: „Polen besitzt 90 Prozent aller europäischen Kohlevorkommen, die uns noch für mindestens 200 Jahre reichen“ deuten darauf hin, dass es kaum politischen Willen gibt, eine sachliche Diskussion über die Lösungen der sozialen und wirtschaftlichen Probleme in den Bergbauregionen und ihre unvermeidliche Umstrukturierung aufzunehmen.

Ambivalenz gegenüber Erneuerbaren und Kernkraft

Die Thematik der erneuerbaren Energiequellen, vor allem der Windkraft, ist für die konservative PiS-Partei, aus der Andrzej Duda stammt, ambivalent. Auf der einen Seite, konnte das neue Gesetz über die Regelung der Förderung der Erneuerbaren Energien in Polen nur mit den Stimmen der PiS im Sejm verbschiedet werden (weil die Mehrheit der regierenden PO dagegen war), auf der anderen Seite interessierte das Thema im Wahlkampf nicht: Andrzej Duda offenbarte seine Einstellungen und Vorstellungen gegenüber Erneuerbaren Energien kaum. In den wenigen bekannt gewordenen Aussagen sprach sich Andrzej Duda lediglich für das Gesetz über „Schutzabstände der Windparkanlagen zu Wohnorten“ aus, dessen verschärfte Fassung von PiS unterstützt wurde.

Die Einstellung der Partei Recht und Gerechtigkeit zur Kernenergie ist ebenfalls kontrovers. Einerseits wird der Einstieg in die Kernenergie als technologischer Fortschritt und Chance für lukrative, internationale Handelsverträge gesehen, andererseits hat Duda die Argumente der finanziellen Belastung, der geringen Wirtschaftlichkeit sowie des Widerstandes der lokalen Aktivisten und Aktivistinnen im Wahlkampf offiziell sehr ernst genommen.   

Bei der Programmanalyse und -vergleich der größten Parteien im polnischen Parlament, d.h. der regierenden, liberal-konservativen PO und der oppositionellen, nationalkonservativen PiS zur Energie- und Klimapolitik kommt man zu der Erkenntnis, dass die Programme sich kaum voneinander unterscheiden. Daher sind auch signifikante Änderungen in der energiepolitischen Schwerpunktsetzung in Polen nach der Wahl von Andrzej Duda zum Staatspräsidenten zur Zeit nicht in Sicht.    
 

Fairer Handel – Fairer Wettbewerb

$
0
0

Für fairen Handel brauchen wir mehr Hilfe zur Selbsthilfe und politische Rahmenbedingungen: Dazu gehören wirksame Maßnahmen zur Reduzierung der Emissionen, ein Konzept für den steigenden Güterverkehr - und verlässliche Zertifizierungen für die Verbraucher/innen.

Die Entwicklung der Idee beziehungsweise des Anspruchs eines fairen Handels und Wirtschaftens ist eigentlich älter als die einer ökologischen Ökonomie. Es gab auf Ebene der Vereinten Nationen viele Entwicklungsgipfel, bevor der erste Umweltgipfel stattgefunden hat, etwa die Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro – mit der Agenda 21 als Abschlussdokument. Trotz der langen Geschichte ist fairer Handel immer noch ein Nischenthema.

Während die ökologischen Folgen der prosperierenden industriellen Entwicklung in den Industrieländern schnell spürbar waren, sind Menschenrechtsverletzungen weit weg von uns. So verpesteten in den siebziger Jahren die Schornsteine der produzierenden Industrie und der Kohlekraftwerke, aber auch die zunehmende Anzahl von Autos und Lastkraftwagen auf den Straßen die Luft mit Schwefeldioxid. Hier bestand akuter Handlungszwang, weil die Menschen in den Städten die Auswirkungen am eigenen Leib zu spüren bekamen. Um das Problem anzupacken, brauchte es Emissionsgrenzwerte und Entschwefelungsanlagen, also einen politischen Ordnungsrahmen. Von 1990 bis 2012 wurde eine Reduktion von 91,9 Prozent an Schwefeldioxidemissionen erreicht, so zeigt es der Indikatorenbericht 2014 „Nachhaltige Entwicklung in Deutschland“ des Statistischen Bundesamtes.

Ohne politischen Rahmen kein fairer Handel

Dieser Handlungszwang fehlt im sozialen Bereich aufgrund der Schieflage in der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung auf der Welt, also bei Menschenrechtsverletzungen, bei schlechten Arbeitsbedingungen und fehlendem Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz in den produzierenden Ländern in Fernost. Die Folgen unserer Konsumgewohnheiten für unterentwickelte Länder sind für die meisten Bürgerinnen und Bürger in den industrialisierten Ländern nicht spürbar. Das spricht dafür, dass politische Rahmenbedingungen Grundvoraussetzung für mehr Lebensqualität sind und eine wirtschaftliche Entwicklung alleine nicht reicht.

Fairer Handel braucht deshalb verstärkt politische Rahmenbedingungen, gerade auch in den industrialisierten Ländern für die produzierenden Länder, um einen fairen Wettbewerb in Gang zu bringen und die postkolonialen Abhängigkeiten zu beenden.

Wo aber setzen wir an? Während für den ökologischen Bereich klare Ziele und Grenzwerte festgelegt werden können, meist sogar in Form von konkreten Messzahlen, ist das bei der Fairness deutlich komplexer. Für Deutschland und in Europa gibt es relativ gut etablierte Rahmenbedingungen, was Menschenrechte, Arbeits- und Gesundheitsschutz anbelangt. Auf internationaler Ebene gibt es zwar zahlreiche Standards auf dem Markt, wie die Allgemeine Erklärung zum Schutz der Menschenrechte oder die ILO-Kernarbeitsnormen oder mit der ISO 26000 auch einen komplexeren Ansatz. Aber wer sorgt für deren Anwendung und kontrolliert die Einhaltung, gerade dann, wenn in anderen Staaten nicht einmal akzeptable gesetzliche Mindeststandards vorhanden sind bzw. sie durch Korruption ausgehöhlt werden?

Verbraucher/innen brauchen mehr Transparenz

Branchenspezifische Ansätze auf freiwilliger Basis sind zunächst ein wichtiger Schritt, wenn die direkte Kontaktpflege zu den Lieferanten, ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den staatlichen Kontrolleuren zum dringend notwendigen Prozess des Bewusstseinswandels vor Ort führt. Gleichzeitig brauchen Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland mehr Transparenz und verlässliche Zertifizierungen, um ihren Konsum zugunsten von mehr Fairness treffen zu können. Hier ist die CSR-Richtlinie der EU ein Anfang, um Nachhaltigkeitsstandards nachvollziehbar und transparent einzuführen. Eine verpflichtende Berichtspflicht für die gesamte Lieferkette ist zwar noch keine Ordnungspolitik, aber sie ist ein Anfang.

Wenn man nun weiter denkt und im Hinterkopf hat, dass gerade die ökologischen und entwicklungspolitischen Ziele, die sich Deutschland mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie gegeben hat, stagnieren oder gar rückläufig sind, dann sind ordnungspolitische Instrumente genauso nötig, wie in den 1970er Jahren die Grenzwerte, die zu Entschwefelungsanlagen und sauberer Luft geführt haben.

Die Hilfe zur Selbsthilfe stärken

Es ist unverzichtbar, dass die ODA-Quote, also der Anteil der Entwicklungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt auf 0,7 Prozent steigt. Es geht aber nicht nur um die Höhe, sondern auch um die Qualität. Wir sollten uns in der Pflicht fühlen, vor Ort wirtschaftliche Kapazitäten aufzubauen, also vor allem die Hilfe zur Selbsthilfe deutlich stärken, wie möglicherweise Recyclinganlagen im ghanaischen Agbogbloshie.

Insider wissen, dass dies der größte Recyclingplatz für Elektro- und Elektronikgeräte der Welt ist, ohne jegliche Gesundheitsstandards, geschweige denn, dass überhaupt Unternehmen vorhanden wären, mit denen verhandelt werden könnte. Es ist weiterhin nötig, dass der Handel nicht nur mit Schwellenländern, sondern auch mit den AKP-Staaten gestärkt wird, ebenso ein bislang verfehltes Nachhaltigkeitsziel.

Verbrauch statt Arbeit besteuern

Wir benötigen wirksamere Maßnahmen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen. Selbst auf deutschem Boden stagniert die geplante Reduzierung, obwohl wir die Produktion überwiegend ins Ausland ausgelagert haben. Das heißt, die Kohlekraftwerke sind sukzessive durch den Ausbau erneuerbarer Energien zu ersetzen. Hier ist die Überprüfung der Subventionspolitik gefragt und ihre Ausrichtung auf Nachhaltigkeit hin gefordert.

Wir müssen zudem Verantwortung übernehmen für die Treibhausgasemissionen der Lieferkette unserer importierten Güter und dürfen uns nicht länger durch Outsourcing schön rechnen. Hier halte ich eine Verlagerung der Besteuerung von Arbeit hin zu den Ressourcen und Emissionen für dringend geboten. Denn nicht Arbeit ist ein knappes Gut, sondern die Ressourcen sind knapp und die schädlichen Emissionen steigen. Wir brauchen dringend eine Stärkung der Kreislaufwirtschaft.

Noch keine Lösung im Mobilitätssektor

Ein großer verfehlter Bereich der Nachhaltigkeitsstrategie ist die Mobilität. Hier stagniert die Entwicklung umweltfreundlicher Antriebe von Fahrzeugen. Für den weiter steigenden Güterverkehr gibt es noch keinen wirklichen Ansatz, weder für die Bewältigung der steigenden Transportmengen, noch für eine Reduktion der dabei entstehenden CO2-Emissionen. Die Industrialisierung der Landwirtschaft hat viele neue Probleme entstehen lassen, wie Ammoniakbelastung und gestiegenen Einsatz von Kraftstoffen und Energie. Dagegen kümmert sich die bäuerliche Landwirtschaft um die Pflege der ökologischen Grundlagen, indem sie Naturkreisläufe achtet.

Wir brauchen also dringend mehr politische Vorgaben, auch um für Wirtschaft und Handel gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, damit die Unternehmen ihre Potenziale für eine nachhaltige Entwicklung ausschöpfen können.

Dies ist der sechste Debattenbeitrag zur Konferenz "Baustelle grüne Wirtschaftspolitik: Welche Ordnung muss sein?", die am 26. und 27. Juni in Berlin stattfindet. Alle Beiträge finden Sie in unserem Dossier.

Auf die richtige Mischung kommt es an!

$
0
0

Um gute Umwelt- und Klimapolitik zu machen, muss sich eine Gesellschaft zunächst selber Ziele setzen. Bei der entsprechenden Instrumentenwahl ist der Mix und die politische Ausgestaltung entscheidend.

Um gute Umwelt- und Klimapolitik zu machen, muss sich eine Gesellschaft zunächst selber Ziele setzen. Das wäre zum Beispiel der Anteil erneuerbarer Energien oder die Reduktion von CO2-Emissionen bis zu einem bestimmten Jahr. Dann geht es darum, mit welchem Instrumentenmix diese Ziele am besten zu erreichen sind. Neben dem klassischen Ordnungsrecht, Fördermöglichkeiten, Informations- und Kennzeichnungspflichten können das auch freiwillige Vereinbarungen mit der Wirtschaft oder nationale Konsense wie beim Atomausstieg sein. Es ist immer falsch, auf nur eines dieser Instrumente von vornherein zu verzichten oder sich auf eines festzulegen. Für jedes Ziel brauchen wir einen Mix und es ist auch eine Aufgabe von Politik, diesen zu ermitteln.

Wo stehen wir also gerade bei der Energiewende? Im Verkehrs- und Wärmebereich sicherlich erst am Anfang. Im Strombereich sind wir bedeutend weiter und stehen vor dem Schritt, dass sich das komplette System auf die Erneuerbaren Energien ausrichten muss. Dabei geht es um die Machtfrage und auch darum, wer zukünftig noch Geld beim Stromverkaufen verdienen kann. Entsprechend hart wird deswegen gerade die Debatte um den Mini-Klimabeitrag von Wirtschaftsminister Gabriel geführt. Denn dieses Instrument wird die Struktur verändern. Die dreckigsten Kohlekraftwerke von Vattenfall, RWE & Co drosseln zwangsläufig ihre Produktion. Die entsprechende Lobby befürchtet zudem weiter verschärfte Vorgaben, wenn die Klimaziele doch nicht erreicht oder in Zukunft angehoben werden. Wichtig ist aber, dass dieses Instrument dem Markt wieder Luft gibt – für richtige Preise und für die Erneuerbaren und für Energieeffizienz. Der reine Strommarkt funktioniert derzeit offensichtlich nicht ausreichend effektiv. Deshalb bedarf es Korrekturen.

Wer verändern will, muss die Bürger/innen im Blick haben

Mit welchen Instrumenten kommt man aber in der momentanen Situation weiter? Sind ordnungspolitische Instrumente mittlerweile das Non-Plus-Ultra, weil der europäische Emissionshandel als marktwirtschaftliches Flaggschiff gekentert ist? Dazu einige Thesen:

  1. Für jedes Ziel braucht es den richtigen Mix aus Instrumenten; außerdem kommt es auf die Ausgestaltung an. Mit einer anderen Ausgestaltung hätte der Emissionshandel zu einer Erfolgsgeschichte werden können. Damals war diese jedoch gesellschaftlich nicht durchsetzbar, weil die Wirtschaft den Emissionshandel erst unbedingt wollte und ihn denn im zweiten Schritt aber ordentlich verwässert hat.
  2. Ordnungspolitik war in den 90ern verpönt. Alles sollte möglichst mit freiwilligen Maßnahmen mit der Wirtschaft geregelt werden. Dieser Weg war aber überhaupt nicht Erfolg versprechend, so dass jetzt das gute alte Ordnungsrecht zunehmend wieder in den Fokus rückt. Sie ist nämlich auch ein Innovationsförderer: gerade die leicht höheren Standards in Deutschland sind Motor für neue Entwicklungen und schaffen die Arbeitsplätze von morgen. Auch das Glühbirnenverbot zeigt diese Logik: Ohne es wäre der Siegeszug der LED-Leuchte nicht möglich gewesen.
  3. Ordnungspolitik hat ihre Grenzen, wo die entsprechenden Kontroll- und Sanktionsmechanismen nicht greifen. Wieder taugt ein europäisches Instrument zur Anschauung – und zwar die Verbrauchsobergrenzen für PKW. Die gibt es, der Erfolg ist aber eher bescheiden. Zwar sinkt der CO2 Ausstoß von neu zugelassenen Autos kontinuierlich seit Jahren, dies jedoch hauptsächlich auf dem Papier. Die Hersteller befinden sich in einem Wettlauf, wer beim Verbrauchs-Test am meisten schummelt. Viele Tricks kommen zum Einsatz: Andere Reifen, andere Schmieröle, verklebte Kühler und eingeklappte Spiegel, um die Aerodynamik zu verbessern sind nur einige der Beispiele. De facto verbrauchen die aktuellen Neuwagen nur unbedeutend weniger Sprit im Vergleich zu ihren Brüdern und Schwestern, die vor 10 Jahren zugelassen wurden.
  4. Wenn man etwas verändern will, muss man auch immer die Bürgerinnen und Bürger im Blick haben. Gegen die Ökosteuer wurde eine massive Medienkampagne inszeniert, die dem Instrument sehr geschadet hat. Wir müssen unseren Instrumentenkasten daher heute kreativer und europäischer denken als noch in den 1990er Jahren. Vor der Einführung eines neuen Instruments sollten die Bürgerinnen und Bürger besser informiert und auch aktiv mit einbezogen werden. Dann fällt es der Politik auch leichter, starkem Druck der Lobby zu widerstehen.
  5. Klare Vorgaben - auch Verbote - gehören ohne Frage zum Instrumentenmix. Man darf sich aber als Akteur nicht von Vorschriften und Verboten eingemauert empfinden. Ziel ist ein guter Instrumentenmix, der ein Klima schafft, in dem die Gesellschaft beispielsweise die CO2 Einsparung nicht als lästige Pflicht wahrnimmt, sondern als „sportliche“ Aufgabe, zu der man gerne beitragen möchte. Im Gebäudebereich sind zum Beispiel Fördermittel und steuerliche Abschreibungen sinnvoll. Im Verkehrssektor setzen Fördermaßnahmen besser bei der Infrastruktur an, wie der Gestaltung der Fahrspuren und anderer Regelungen.
  6. Die Klimapolitik ist mittlerweile eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Hier sollte gerade Deutschland eine klare Haltung bewahren, um auch das internationale Ansehen der Energiewende weiter sauber zu halten. Deswegen müssen gerade die alten Braunkohlekraftwerke vom Netz. Damit werden zusätzlich auch fossilen Überkapazitäten schnell abgebaut. Und es braucht jetzt endlich Planungssicherheit, wie der Kohleausstieg am besten und auch im Sinne der vom Strukturwandel betroffenen Menschen angegangen wird. Neben richtiger Ordnungspolitik ist also ein nationaler Kohlekonsens notwendig, in dem ein ganzer Instrumentenmix zum Tragen kommt. Hier versagen die Beteiligten bisher, weil sie die politische Auseinandersetzung fürchten.

Letztendlich halte ich also die Instrumentenfrage nicht für allein entscheidend. Viele Wege führen nach Rom und so ist es auch bei der Instrumentenwahl. Es kommt auf den Mix und die Ausgestaltung an – und die hängt vom politischen Willen ab. Diesen Gestaltungs- und Veränderungswillen vermisse ich aber bei der Bundesregierung, sowie bei den entscheidenden europäischen Akteuren.

Dies ist der siebte Debattenbeitrag zur Konferenz "Baustelle grüne Wirtschaftspolitik: Welche Ordnung muss sein?", die am 26. und 27. Juni in Berlin stattfindet. Alle Beiträge finden Sie in unserem Dossier.

Globale Weichenstellung

$
0
0

Kann Addis Abeba höhere Zielsetzungen im Jahr 2015 anstoßen? Angst und Hoffnung sollten Ansporn für ein gutes Ergebnis der dritten UN-Konferenz über Entwicklungsfinanzierung sein.

Einleitung: Das Trio der großen Konferenzen

Das Jahr 2015 könnte in die Geschichtsbücher als das Jahr der Weichenstellung eingehen, in dem im globalen Wirtschafts- und Finanzsystem ein neuer Kurs eingeschlagen wurde, der eine nachhaltige Zukunft einläutete. Oder aber es könnte zum Jahr aufeinanderfolgender multilateraler Misserfolge werden, was einen weiteren Rückschlag für die UN-Bemühungen um eine nachhaltige Entwicklung bedeuten würde. Wenn sich die Weltspitze vom 13. - 16. Juli im äthiopischen Addis Abeba zur dritten UN-Konferenz über Entwicklungsfinanzierung ( kurz FfD-3) trifft, steht viel auf dem Spiel. Dem "Weiter-wie-bisher" und den Entscheidungen, die Menschen und die Erde zum Spielball von Märkten werden lassen, muss entschieden entgegengewirkt werden. Diese Politik hat uns auf den Kurs zu einem möglicherweise katastrophalen Klimawandel, einem Verlust an Biodiversität und einer zunehmenden Ungleichheit geführt, aufgrund dessen immer noch viel zu viele Menschen, allen voran Frauen, in extremer Armut leben.

Die FfD-3-Konferenz in Addis Abeba wird ein entscheidendes Signal setzen, ob ein Kurswechsel möglich ist, ob die Zielsetzungen weltweit erhöht werden können und ob sich Hoffnung breitmachen und das Vertrauen zwischen Norden und Süden wiederhergestellt werden kann, das den Kern der weltweiten Zusammenarbeit ausmacht.

Die Konferenz ist von so zentraler Bedeutung, weil sie die erste von drei großen UN-Veranstaltungen innerhalb von sechs Monaten ist. Nach der Addis-Abeba-Konferenz im Juli findet im September (in New York) der UN-Sondergipfel zu nachhaltiger Entwicklung statt, auch als "Post-2015-Agenda" bezeichnet. Während die Millennium-Entwicklungsziele das Leitbild der Politik von 2000 bis 2015 waren, sind die Nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) die Etappenziele, die es bis 2030 zu erreichen gilt.1 Nur wenige Monate nach New York geht es im Dezember auf der Weltklimakonferenz in Paris (COP21) um die Erarbeitung und Verabschiedung eines ehrgeizigen internationalen und rechtsverbindlichen Klimaabkommens, das dazu beitragen kann, eine Klimakatastrophe abzuwenden.

Ein schwaches Ergebnis bei der FfD-3-Konferenz in Addis könnte einen negativen "Domino-Effekt" auslösen, der die beiden folgenden UN-Veranstaltungen unterminiert. Viele Länder, darunter auch Deutschland, wollen dass die FfD-3-Konferenz mit einem guten Ergebnis die beiden anderen Gipfeltreffen beeinflusst, denn die Finanzierung gilt als entscheidende Hauptsäule für die Umsetzung der Post-2015-Agenda und zum Erreichen des Ziels der Anpassung an den Klimawandel und der Abschwächung seiner Folgen.

Auf der Grundlage des letzten Entwurfs des Abschlussdokuments sind viele kritische Beobachter jedoch der Meinung, dass sich die Aussichten für ein positives Ergebnis der FfD-Konferenz in Addis Abeba trüben. Es sind schon Fälschungen des offiziellen Konferenz-Logos im Umlauf, auf denen es spöttisch heißt "failing to finance development" oder das Gipfeltreffen als "time for global inaction"verhöhnt wird. Nachdem vor kurzem die letzte Verhandlungswocheüber das Abschlussdokument von Addis in New York zu Ende gegangen ist, beklagen viele Beobachter, dass es diesem letzten Text an Dringlichkeit fehle, auf die Gefahren hinzuweisen, falls man alles weiter wie bisher laufen ließe. Darüber hinaus kritisieren sie, dass einige Textpassagen, für die sie sich im Verlauf der Verhandlungen stark gemacht hatten, erheblich verwässert wurden, unter anderem die Passagen über Unternehmensverantwortung oder über wichtige institutionelle Reformen für eine globale Wirtschafts- und Finanzordnung.

In einem früheren Entwurf kam durchaus Besorgnis zum Ausdruck, vor allem in Bezug auf die Probleme der am wenigsten entwickelten Länder, die zunehmenden globalen Ungleichheiten und die rasante Übertragung von Wirtschaftsschocks und Krankheiten in unserer hochgradig vernetzten Welt. Zudem wurde darin anerkannt, dass "Umweltzerstörung, Klimawandel und andere ökologische Risiken vergangene Erfolge und Aussichten für die Zukunft zu untergraben drohen."2

Der Ton steht jedoch in einem deutlichen Gegensatz zur Erklärung von Doha über die Entwicklungsfinanzierung (FfD-2) aus dem Jahr 2008, die in einer gewissen Alarmstimmung verabschiedet wurde, weil die globale Finanzkrise damals gerade ausbrach. Die Doha-Erklärung warnte davor, dass

"die internationale Gemeinschaft nun mit den schwerwiegenden Auswirkungen auf die Entwicklung [konfrontiert ist], die von mehreren einander bedingenden globalen Krisen und Herausforderungen wie der zunehmenden Ernährungsunsicherheit, stark schwankenden Energie- und Rohstoffpreisen, dem Klimawandel und einer globalen Finanzkrise ausgehen…"

Wichtiger als der Ton ist natürlich der Gehalt der drei UN-Großveranstaltungen in diesem Jahr. Trotz der massiven Herausforderungen, vor denen die Weltgemeinschaft steht, ignoriert der letzte Entwurf des FfD-Abschlussdokuments eindeutig wichtige systemische Veränderungen, die im globalen Finanz-, Handels- und Investitionssystem vonnöten sind. Insbesondere ein parallel zu den UN-Verhandlungen von der Gruppe der Zwanzig (G20) und mehreren Entwicklungsbanken erarbeitetes neues Investitionsmodell könnte durch die Stärkung des Marktfundamentalismus ein "Weiter-wie-bisher" sozusagen auf "Steroide" setzen. Wenn Addis keinen negativen "Domino-Effekt" auslösen soll, müssen die Staatschefs auf der anstehenden FfD-Konferenz einen Kurswechsel einleiten und den aktuellen Entwurf des Abschlussdokuments noch erheblich verändern.

Die Welt im Jahr 2030 – Verheißung oder Bedrohung?

Auf den drei diesjährigen UN-Gipfeln wird es nicht nur entscheidend sein, wie ernst die Bedrohungen und Herausforderungen in den Erklärungen und Abkommen genommen werden, sondern auch, ob überzeugende Lösungen gefunden werden. Diese Lösungen sollten Mittel und Wege aufzeigen, mit denen ein umgestaltetes systemisches Finanz-, Handels- und Investitionsmodell eine menschenzentrierte, inklusive, gerechte und nachhaltige Entwicklung unterstützen kann. Der Selbstzweck einer gerechten und nachhaltigen Entwicklung ist ihrerseits die Förderung der Menschenrechte, der Gleichstellung der Geschlechter und des Rechts der Erde.

Das Rio-Prinzip der "gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung", die sich auf die Maßnahmen der einzelnen Staaten zur Unterstützung einer nachhaltigen Entwicklung bezieht, muss als Ausdruck internationaler Solidarität und als Verpflichtung der jeweiligen Länder beibehalten werden. Derzeit wird dieses Prinzip jedoch von den meisten Verhandlungsführern der entwickelten Länder als Grundlage für einen Abschluss in Addis, wie von der Gruppe der 77 gefordert, im Kontext der Entwicklungsfinanzierung als zu weitreichend abgelehnt. Das Konzept ist als übergreifende Richtlinie  für die Klimaverhandlungen in den Bemühungen um ein globales Klimabkommen in Paris ebenfalls von der Verwässerung bedroht.

Die multilateralen Herausforderungen, die auf den Tagesordnungen der drei Gipfeltreffen stehen, sind enorm: Schätzungen zufolge wird die Erdbevölkerung bis 2030 auf rund 8,3 Milliarden Menschen anwachsen (von 7 Milliarden im Jahr 2011). Es ist zu erwarten, dass mit dem Wachsen der Mittelschichten auch der Konsum stark ansteigen wird. Dies betrifft insbesondere die sieben aufstrebenden Volkswirtschaften - China, Indien, Brasilien, Indonesien, Mexiko, Russland und der Türkei –, die vermutlich die Wachstumsraten in den G7-Staaten übertreffen werden. Die städtischen Bevölkerungen werden rasant zunehmen, von etwa 50 Prozent heute auf 60 Prozent 2030. Bis 2030 wird der Bedarf an Nahrung, Wasser und Energie um 35, 40 beziehungsweise 50 Prozent steigen.3 Die Vorteile des Wachstums und die Anhäufung von Reichtum werden jedoch weiterhin sehr ungleichmäßig über die Welt verteilt sein.

Die Vermögensverteilung ist eklatant: Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung besitzt gemeinsam weniger als ein Prozent des globalen Reichtums, während die reichsten zehn Prozent 87 Prozent aller Vermögenswerte besitzen, und beim obersten ein Prozent der Menschheit konzentriert sich fast die Hälfte allen Reichtums dieser Welt.4 Das ist unvermeidlich, solange beispielsweise das Wachstum eines deregulierten Finanzsektors diese Vermögensungleichheiten (die sehr viel verzerrter sind als Einkommensungleichheiten) weiter verschärft. Studien der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich vom Februar 2015 und OECD-Studien vom Juni 2015 bestätigen diesen Trend.

Der Bedarf an Nahrungsmitteln wird bis 2030 um über 35 Prozent steigen, aber weltweit sind die Produktivitätszuwächse von zwei Prozent zwischen 1970 und 2000 auf heute 1,1 Prozent gesunken und sinken weiter,5 was unter anderem auf den Klimawandel zurückzuführen ist. Laut UN-Prognosen wird bis 2030 bei dem heutigen Szenario des Klimawandels fast die Hälfte der Weltbevölkerung in Gebieten mit hohem Wasserstress leben, darunter zwischen 75 und 250 Millionen Menschen in Afrika.

Mit dem gegenwärtigen Kurs dürfte die Welt wohl das Ziel weit verfehlen, den CO2-Ausstoß soweit zu reduzieren, dass sich der Temperaturanstieg auf zwei Grad Celsius (über dem vorindustriellen Niveau) begrenzen lässt.6 Um eine Welt mit wenig/keinem Kohlendioxid "auf der Grundlage der Gerechtigkeit für heutige und künftige Generationen und entsprechend ihren gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und jeweiligen Fähigkeiten" zu schaffen, wie es UN-Generalsekretär Ban Ki-moon letztes Jahr in seinem Synthesebericht über die Post-2015-Agenda forderte, braucht es eine radikale Kehrtwende.

Die weltweiten Treibhausgasemissionen aus der Erzeugung und Nutzung von Energie sind aktuell doppelt so hoch wie alle anderen Quellen zusammen. Das heißt, dass die Aktionen zur Bekämpfung des Klimawandels in erster Linie vom Energiesektor ausgehen müssen.7 Zu den wichtigsten Schritten gehören: Erhöhung der Energieeffizienz und Investitionen in Technologien erneuerbarer Energien, Verbot der Errichtung neuer mit fossilen Energien betriebener Kraftwerke und Stilllegung der am wenigsten effizienten und am meisten die Umwelt verschmutzenden Anlagen. Darüber hinaus müssen die Subventionen für fossile Brennstoffe abgeschafft werden, die sich laut eines kürzlich vom IWF herausgegebenen Papiers auf weitaus mehr belaufen als die allgemein zitierten knapp 550 Milliarden US-Dollar (USD):

"Energiesubventionen nach Besteuerung (die neben den aktuellen Subventionskosten zusätzlich die Kosten für negative Externalitäten des Energieverbrauchs mit einbeziehen) - liegen sehr viel höher als bisher angenommen – nämlich bei 4,9 Billionen USD im Jahr 2013 (6,5 Prozent des weltweiten BIP), und es wird erwartet, dass sie 2015 auf 5,3 Billionen steigen (6,5 Prozent des weltweiten BIP). … Eine Abschaffung von Subventionen nach Besteuerung im Jahr 2015 könnte die Einnahmen der Regierungen um 2,9 Billionen USD (3,6 Prozent des weltweiten BIP) erhöhen, die globalen CO2-Emissionen um über 20 Prozent reduzieren und die auf Luftverschmutzung zurückzuführende Sterblichkeitsrate halbieren. Unter Berücksichtigung der höheren Energiekosten für die Verbraucher würde diese Aktion den globalen wirtschaftlichen Wohlstand um 1,8 Billionen USD erhöhen (2,2 Prozent des weltweiten BIP)."

Solange die Subventionen für fossile Brennstoffe noch fließen, bedeutet das einen Wettbewerbsnachteil für erneuerbare Energien. Deshalb ist es zwingend notwendig, dass auf allen drei anstehenden UN-Veranstaltungen die Abschaffung dieser Subventionen gefordert wird. Es ist aber noch ein weiterer Schritt erforderlich: Dem Verursacherprinzip ("polluter-pays principle") folgend, sollten die weltweit größten CO2-Emittenten – die 90 "Carbon Majors", die größten Produzenten von Öl, Erdgas, Kohle und Zement, die für 63 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich sind – den armen Gemeinschaften Entschädigungen für die von ihnen verursachten klimabedingten Verluste und Schäden leisten, und zwar mittels einer Abgabe, die in einen Internationalen Mechanismus für Verluste und Schäden fließen.

Entwicklungsfinanzierung-3: Ein neues Investitionsmodell?

Die Kosten zur Abwendung einander bedingender Katastrophen (z. B. Klima, Nahrung, Wasser und Energie) und für Maßnahmen gegen die damit einhergehenden Probleme der anhaltenden Ungleichheit und Armut sind gewaltig, aber die Kosten wären noch sehr viel höher, würde man all das ignorieren und gar nichts tun. Auf dem UN-Sondergipfel im September soll eine Reihe von nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) verabschiedet werden. Die für ihre Umsetzung erforderlichen Investitionen werden auf zwei bis drei Billionen USD öffentlicher und privater Mittel jährlich über einen Zeitraum von 15 Jahren geschätzt.8 Das beläuft sich aber nur auf die Hälfte der 89 Billionen USD, die von der Weltbank veranschlagt werden als notwendige Infrastrukturinvestitionen in Städte, Energie- und Landnutzungssysteme. Auch die Internationale Energieagentur warnt, dass bis 2035 rund 53 Billionen USD an kumulierten Investitionen in die Energieversorgung und Energieeffizienz fließen müssen, um die Erderwärmung auf zwei Grad Celsius (über dem vorindustriellen Niveau) zu begrenzen und die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels zu verhindern. Sollten sich auf der Klimakonferenz in Paris strengere Klimamaßnahmen durchsetzen, die einen weiteren Kohlendioxid-Ausstoss begrenzen, würden etwa 300 Milliarden USD an Investitionen in fossile Brennstoffe unbrauchbar werden (stranded assets) werden.

Anders gesagt ist Infrastruktur eine übergreifende Angelegenheit, die zur Erreichung vieler SDGs erforderlich ist, aber sie darf keine Investitionen aus anderen Bereichen abziehen, die auch entscheidend sind für eine nachhaltige Entwicklung – von der Gleichstellung der Geschlechter über Fischgründe und Kleinbauern bis hin zur finanziellen Unterstützung der auf den nationalen Märkten der Entwicklungsländer tätigen Kleinst-, Klein- und mittelständischen Unternehmen.

Welche Investitionsquellen können dem Bedarf für die SDGs gerecht werden und weitergehende systemische Veränderungen finanzieren? Öffentliche und private Mittel aus den entwickelten Ländern machten 2010 etwa 84 Prozent aller Entwicklungsfinanzierung aus, private internationale Finanzierung schlug mit 14 Prozent zu Buche und alle Formen öffentlicher internationaler Finanzierung hatten einen Anteil von zwei Prozent.9 Letztere wird auch als "Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit" (official development assistance, ODA) bezeichnet und beträgt derzeit etwa 135 Milliarden USD jährlich, was lediglich etwa 0,31 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) aller OECD-Geberländer entspricht, auch wenn es in den letzten 50 Jahren gestiegen ist. Das bleibt hinter den langjährigen Versprechungen zurück, für alle Entwicklungsländer und die am wenigsten entwickelten Länder respektive je 0,7 bzw. 0,2 Prozent des BNE bereitzustellen.

Die auf der Kopenhagener Klimakonferenz 2009 gemachte Zusicherung, bis 2020 jährlich 100 Milliarden USD an "neuer und zusätzlicher" Klimafinanzierung für Entwicklungsländer aufzubringen (wobei die Entwicklungsländer und die Zivilgesellschaft darauf bestehen, dass diese Mittel "zusätzlich" zu den schon bestehenden ODA-Verpflichtungen gezahlt werden müssen), bleibt ebenso weit hinter dem tatsächlichen Klimafinanzierungsbedarf zurück. Allein für die Anpassungsmaßnahmen, die den schon ernsten Klimafolgen entgegenwirken, von denen die ärmsten Länder und Bevölkerungsgruppen unverhältnismäßig hart betroffen sind, könnten bis 2050 bis zu 300 Milliarden USD jährlich nötig sein. Und das gilt auch nur, wenn die Erderwärmung auf eine Erhöhung von zwei Grad Celsius gehalten werden kann. Die Erfüllung der Kopenhagener Zusicherung ist die Mindestanforderung und das Mindestgebot für die aktuellen Klimaverhandlungen. Jedoch ist nur wenige Monate vor dem Pariser Gipfel kein glaubwürdiger Weg in Sicht, wie diese Summe aufzubringen ist, obwohl kürzlich einige Vorschläge auf den Tisch kamen, die von einer Kommission im Auftrag der französischen COP21-Präsidentschaft erarbeitet wurden.

In den FfD-Verhandlungen im Vorfeld von Addis Abeba spielen die entwickelten Länder die zentrale Bedeutung der Bereitstellung öffentlicher Mittel für globale Kollektivgüter herunter und verweisen auf Haushaltszwänge im eigenen Land sowie auf eine sich wandelnde globale Landschaft mit stärkeren Volkswirtschaften in den Schwellenländern. Sie reagieren nicht nur ablehnend auf jegliche Forderungen, die öffentlichen Mittel zu erhöhen, sondern mehrere wichtige entwickelte Länder blockieren das weitere Vorgehen, innovative Finanzierungsquellen einzubinden, darunter eine über die regionale Einführung hinausgehende Finanztransaktionssteuer (FTS), die derzeit auf elf Länder in der EU beschränkt ist, oder weltweite Abgaben auf Schiffs- und Luftverkehr, die auf eine Weise erhoben werden müssten, dass Entwicklungsländer nicht unverhältnismäßig hoch belastet würden. Auch eine Abgabe auf den Abbau fossiler Energieträger sollte in Erwägung gezogen werden.

Stattdessen richten die entwickelten Länder ihr Augenmerk auf die Nutzung der knappen Haushaltsmittel als Hebel für und im Verbund mit Ressourcen aus dem privaten Sektor, einschließlich der schätzungsweise 93 Billionen USD an Mitteln von institutionellen Investoren (z. B. Renten-, Versicherungs- und Investitionsfonds), die auf Langfristigkeit ausgerichtet sind. Um solche massiven Quellen anzuzapfen, wird im FfD-Prozess sicherlich die Forderung nach einem förderlichen, deregulierten Umfeld für den privaten Wirtschaftssektor laut und die Bedeutung einer "Erhöhung der Fungibilität" von öffentlichen Mitteln herausgestellt werden. Letzteres bedeutet, dass derselbe Topf an ODA-Mitteln durch die Hebelung von und Mischung mit privaten Ressourcen sowohl für Entwicklungs- als auch für Klimamaßnahmen verwendet werden könnten.

Im Entwurf des FfD-Abschlussdokuments vom Mai heißt es:

"Wir anerkennen, dass öffentliche Investitionen, darunter durch Entwicklungsbanken und andere Institutionen der Entwicklungsfinanzierung, bei der Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen eine Schlüsselrolle spielen. Eine Mischfinanzierung, die öffentliche und private Ressourcen und Fachkenntnisse bündelt, stellt ein wesentliches Potential dar, mit Ressourcen, Expertise und Technologietransfer zu einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen."10

Das stellt einen grundlegenden Wandel des bisherigen globalen Investitionsmodells dar. Auf der ersten Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung 2002 im mexikanischen Monterrey verließ sich die Welt auf das Modell der Verwendung öffentlicher Investitionen als Mittel, mit dem die Regierungen den Gesellschaftsvertrag mit ihren Bürgern erfüllten. Auf der anstehenden FfD-3-Konferenz werden die politischen Führungen ein neues Modell umreißen, das im Wesentlichen darauf basiert, dass öffentliche Mittel als Unterstützung für private Investitionen dienen, um Billionen USD an Privatinvestitionen in Richtung nachhaltiger Entwicklungs- und Klimaziele zu verschieben. Dieser Wandel von Monterrey zu Addis Abeba bedeutet nicht nur eine Veränderung der Partnerschaft zwischen entwickelten und Entwicklungsländern, sondern auch der Rollen von öffentlicher und privater Finanzierung. Im Extremfall kann das im Entwurf der Addis-Abeba-Erklärung beworbene Modell die Rolle der Staaten als Pflichtenträger gegenüber ihren Bürgern als Inhabern unveräußerlicher Rechte unterminieren.

Dieser grundlegende Wandel wird nicht nur im Entwurf des FfD-Abschlussdokuments offensichtlich, sondern auch im Ansatz zur "Entwicklungsfinanzierung" von sieben internationalen Finanzinstitutionen (IFI)11, die beschreiben, wie sie mit einer Veränderung des multilateralen Instrumentariums die Entwicklungsfinanzierung von "Milliarden auf Billionen" erhöhen würden. In Bezug auf die Infrastruktur wurde die Plattform dieser Institutionen im November vorgestellt. Im Gegensatz zum UN-System, dem im Verlauf des letzten Jahrzehnts die meisten seiner finanziellen und wirtschaftlichen Koordinierungsfunktionen entzogen wurden, verfügen die IFI über beträchtlichen finanziellen Einfluss.

Das auf dem Frühjahrstreffen von IWF/Weltbank vorgelegte Papier fordert einen Paradigmenwechsel hin zur "Mobilisierung von Ressourcen und Co-Investitionen sowohl aus bereits existierenden als auch aus nichttraditionellen Kapitalquellen wie Pensionsfonds, Staatsfonds und Versicherungsgesellschaften“. Durch die Bündelung von Mitteln (bzw. Plattformen der Co-Investition) werden Portfolios von öffentlich-privaten Partnerschaften (ÖPP) finanziert, insbesondere im Rahmen sozialer und wirtschaftlicher Infrastruktur. Wie oben bereits gesagt, würde dieser Ansatz theoretisch dazu beitragen, die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) zu erreichen, indem beispielsweise "bisher unterversorgte Bevölkerungsgruppen auf eine finanziell nachhaltige Weise an der 'Basis der Pyramide' erreicht würden, die einen Markt von jährlich 5 Billionen USD … mit über 4,5 Milliarden Menschen darstellt".12

So zielt der neue Rahmen auf eine Umgestaltung der Entwicklungsfinanzierung ab, bei der unter anderem öffentliche Gelder (z. B. Steuern, Renten, Nutzungsgebühren) dazu benutzt werden, Billionen an privat investierten Dollar anzuziehen und neue "Anlagekategorien" zu bilden, wie soziale, wirtschaftliche und Energie-Infrastrukturen. Diese "Goldtöpfe" würden von institutionellen Investoren (z. B. Renten-, Investitions- und Versicherungsfonds) gefüllt, die langfristig anlegen und über ein Kapital von etwa 93 Billionen USD verfügen,13 das heißt einen Betrag, der das globale Bruttoinlandsprodukt von 75 Billionen USD bei Weitem übersteigt. Derselbe Ansatz gilt auch als der beste Weg, Finanzen in der Größenordnung zu mobilisieren, wie sie für eine Umgestaltung der Klimafinanzierung erforderlich sind, indem diese Akteure sich mit beträchtlichen finanzielle Beiträgen am neuen Grünen Klimafonds (Green Climate Fund, GCF) beteiligen sollen. Auf höchster Ebene hat UN-Generalsekretär Ban Ki-moon dieses neue Rahmenwerk begrüßt, indem er äußerte:

"Es sind dringende Maßnahmen erforderlich, um die transformative Kraft von Billionen Dollar an Privatmitteln für die Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung zu mobilisieren, umzulenken und freizusetzen."14

Die Erklärungen und Abschlussdokumente der UN-Veranstaltungen werden zwar betonen, dass sowohl alle Staaten als auch alle Unternehmen hohe ökologische und soziale Standards wahren und die Gleichstellung der Geschlechter fördern müssen, aber es bleibt doch die Tatsache, dass "die für institutionelle Investoren geltenden Regeln – wie treuhänderische Pflicht, Hege, Risikomanagement und Rechenschaftslegung – immer noch nicht auf effektive Weise gegen langfristige ökologische und soziale Risiken absichern", wie das UN-Umweltprogramm und andere Institutionen feststellen.15 Zudem sind private Investoren bestrebt, die Rendite auf ihre Investitionen durch garantierte Einnahmeströme aufrechtzuerhalten und sicherzugehen, dass Gesetze und Vorschriften (einschließlich ökologischer und sozialer Bestimmungen) sich nicht negativ auf ihre Gewinne auswirken. Weltweit tätige Beratungsfirmen wie KPMG sehen den Verbraucherschutz als Risiko für den Investorenschutz.16

Charles Kenny schreibt:

"… da gibt es sicherlich noch offene Fragen zu den Auswirkungen auf die Entwicklungszusammenarbeit und zu den Opportunitätskosten einer privaten Infrastrukturinvestition, die jährlich eine 20%ige Rendite einfahren will, die zu einem gewissen oder gar beträchtlichen Teil durch Hilfsgelder gesichert wird, gegenüber den Kosten öffentlicher Infrastrukturinvestitionen durch Kredite zu IBRD-Konditionen oder ähnlichen Zinsraten. Und sowohl bei einer privaten als auch einer öffentlichen Finanzierung zum Marktkurs ist es fragwürdig, ob man wirklich Schulden für Infrastruktur anhäufen will, bevor man sicher sein kann, dass diese effektiv ist (d. h. zu Rückzahlungen in der Lage ist und sich positiv auf die Entwicklung auswirkt)".17

Zivilgesellschaftliche Aktivisten drängen darauf, dass diese Verschiebung der Vorgehensweise von Monterrey zu Addis auf zweifache Weise angefochten wird. Zum einen argumentieren sie, dass noch nicht ausreichend bewiesen sei, dass die öffentlich-privaten Partnerschaften (ÖPP) tatsächlich gut genug funktionierten, um sie auszuweiten – insbesondere in sensiblen Sektoren wie Gesundheits- und Bildungswesen, Wasser und Elektrizität. Wenn es den ÖPP vielleicht auch gelingen mag, ihren privaten Partnern eine Rendite zurückzuzahlen, werden sie es häufig unterlassen, in arme Gemeinschaften zu investieren oder erschwingliche Dienstleistungen anzubieten.

Zwar sprechen sich einige für eine "ÖPP mit Bürgerbeteiligung" als einer inklusiveren Art der Geschäftsbeziehungen aus, aber es liegt noch kein detailliert ausgearbeiteter Vorschlag zur Gestaltung dieser Partnerschaften vor. Bei einem solchen Modell müsse die Zivilgesellschaft konkret und maßgeblich an der Steuerung und Kontrolle der partnerschaftlichen Investitionen beteiligt sein, um sicherzustellen, dass Risiken und Verdienste der Projekte gerecht geteilt werden. Darüber hinaus würden ÖPP mit echter Bürgerbeteiligung darauf abzielen, vorrangig auf den Binnenmärkten tätige Kleinst-, Klein- und mittelständische Unternehmen zu unterstützen, klare Rechenschaftsmechanismen beinhalten sowie sozialen und ökologischen Standards entsprechen und die Gleichstellung der Geschlechter fördern. Dieser Ansatz, der jedoch nur einer von vielen aus einer Reihe von Strategien sein kann, erfordert mehr als nur "Richtlinien und Anleitungen zum Einsatz von ÖPP oder den Aufbau einer Wissensbasis und dem Austausch von Erfahrungen in regionalen und globalen Foren", was alles ist, was der aktuelle Entwurf zu Addis verspricht. Stattdessen müssen erst Kontroll- und Rechenschaftsmechanismen zu Multi-Stakeholder-Partnerschaften in der UN eingerichtet werden, bevor weitere Partnerschaften dieser Art gebilligt und durchgeführt werden.

Zweitens warnen zivilgesellschaftliche Aktivisten davor, dass die Bündelung von ÖPP in Portfolios oder die Verwandlung von Entwicklungssektoren, wie Infrastruktur in Anlagekategorien, viele Risiken birgt. Genau wie individuelle ÖPP werfen auch Portfolios von ÖPP beträchtliche Probleme in Bezug auf Transparenz und Rechenschaft auf und führen häufig zu versteckten Schulden (nicht im Haushalt auftauchende Verbindlichkeiten), die nicht vollständig beziffert werden können oder nachvollziehbar sind. Mit fernen Investoren als Nutznießern von Gemeinschaftsentwicklung und Infrastrukturmaßnahmen steigt das Risiko, dass "Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert" werden, und zwar in einer gewaltigen Größenordnung. Das neue Investitionsmodell birgt auch die Gefahr, die Demokratie zu untergraben, da selbst die Regierungen kaum Einfluss auf die institutionellen Investoren haben, ganz zu schweigen von den Bürgern.

Wichtige systemische Fragen angehen

Das neue Investitionsrahmenwerk darf nicht als Vorwand dienen für einen Konkurrenzkampf zwischen "dem Westen und dem Rest der Welt" um die Kontrolle über Bodenschätze und das Vordringen auf Märkte. Stattdessen ist ein Wettrennen nötig, um die Regeln oder die Regelmacher auszutauschen, um sicherzustellen, dass das Investitionsmodell für die nächsten 15 Jahre wichtigen nachhaltigen Entwicklungs- und Klimazielen dient, und zwar in einem Kontext, in dessen Mittelpunkt die Erfüllung der Menschenrechte und die Förderung der Geschlechtergleichstellung steht. Im Jahr 2002 betonte der Konsens von Monterrey die entscheidende Bedeutung einer "geschlechtergerechten Entwicklung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt" und drängte darauf, die Geschlechterfrage in den entwicklungspolitischen Maßnahmen auf allen Ebenen und in allen Sektoren zu berücksichtigen.

Damit Addis Abeba zum Startpunkt eines solchen Wettrennens zur Spitze werden kann, muss das FfD-3-Dokument mehr als nur "the one and only" Säule für die Umsetzung der Post-2015-Agenda sein, wie es derzeit von vielen entwickelten Ländern gesehen wird. Zwar plädierten Industrieländer im FfD-Verhandlungskontext für eine Integration von Menschen- und Frauenrechtssprache im Abschlusstext (was von vielen Entwicklungsländern nicht unterstützt wurde), wichtige Umsetzungsstrategien für diese Forderung werden von Industrieländerseite allerdings nicht konsequent mitgedacht. Diese liegen gerade auch in einer dringend notwendigen Überarbeitung der Vorschläge hinsichtlich der ÖPP und der Mischfinanzierung.

Außerdem sollten die politischen Führungen in Addis Abeba nicht davor zurückschrecken, einige der notwendigen systemischen Veränderungen anzugehen und die Aspekte zu ändern, die heute einer nachhaltigen Entwicklung für alle in einer vom Klimawandel gebremsten Welt im Wege stehen. Zu den wichtigen systemischen Unzulänglichkeiten, die in Addis zur Sprache kommen sollten, und zu den Abhilfemöglichkeiten gehören:

  • Die Regulierung des Finanzmarktes, einschließlich seines übergroßen Derivat-Segments (das 2008 die Marke von 605 Billionen USD erreichte), durch die Trennung von Investment- und Geschäftsbanken; die durch Derivate ermöglichte Spekulation hat zu einer größeren Volatilität von Rohstoffpreisen, einschließlich der Getreidepreise, geführt;
  • die Aufspaltung, Regulierung und Überwachung von systemisch wichtigen Finanzinstituten, die "zu groß zum Scheitern sind", wie beispielsweise große internationale Banken und Kreditratingagenturen; dies sollte unter Führung einer unabhängigen multilateralen Aufsichtsbehörde erfolgen;
  • die Einrichtung eines internationalen Organs für eine internationale Steuerkooperation, das die Steuervermeidung durch Unternehmen und den Missbrauch von Verrechnungspreisen angeht; die Vereinten Nationen sollten die Vorherrschaft der OECD/G20 bei der Festlegung von Steuerstandards zum Nachteil von Entwicklungsländern anfechten.
  • ein Mechanismus zur Umstrukturierung von Staatsschulden, der eine gerechte und inklusive Schuldenabwicklung sicherstellt, die Mitverantwortung des Gläubigers anerkennt, eine auf den Bedürfnissen der Menschen beruhende Einschätzung der Möglichkeiten von Regierungen zur Schuldentilgung vornimmt und die Rolle der Geierfonds beendet;
  • eine umfassende Überprüfung aller Handels- und Investitionsabkommen, vor allem auch der urheberrechtlichen Einschränkungen, mit Blick auf die Einhaltung von Menschenrechten; die aktuellen Investitions- und Handelsabkommen unterminieren oder blockieren durch die Streitbeilegungsverfahren zwischen Investoren und Staaten (ISDS), die Unternehmensinteressen über die der Öffentlichkeit stellen, häufig die Fähigkeiten von Entwicklungsländern, Vorschriften im Interesse der Öffentlichkeit durchzusetzen, insbesondere wenn es um Bodenschätze, soziale Fragen oder Umweltschutz geht.
  • eine Korrektur der bestehenden Machtverteilung in der globalen Finanz- und Wirtschaftsordnung mit Reformen der Bretton-Woods-Institutionen, die den Entwicklungsländern ein größeres Mitsprache- und Mitbestimmungsrecht einräumen und die Institutionen unter die Aufsicht der Vereinten Nationen stellen, beispielsweise unter einen neuen Globalen Rat zur Wirtschaftlichen Koordination der Vereinten Nationen (UN Global Economic Coordination Council), den viele Beobachter aus der Zivilgesellschaft befürworten;
  • und schließlich eine verbindliche Regelung für einen strengen Folgeprozess, beispielsweise durch ein autonomes intergouvernementales UN-Organ, das mit der Macht ausgestattet ist, Regierungen zur Verantwortung zu ziehen, wenn sie ihren Verpflichtungen nicht nachkommen; dies ist notwendig, um über reine Lippenbekenntnisse hinauszukommen und das Muster der ersten FfD-Konferenz in Monterrey nicht zu wiederholen, wo es zwar zu einem schön klingenden Abschlussdokument kam, aber die Umsetzung zu wünschen übrig ließ. Die Welthandelsorganisation und die internationalen Investitionsabkommen verfügen über einen solchen Durchsetzungsmechanismus bei Vertragsverletzungen.

Ohne eine erhebliche Verbesserung des Entwurfs des Abschlussdokuments hinsichtlich seines Tons und seines Gehalts läuft die Addis-Abeba-Erklärung Gefahr, von der kürzlich veröffentlichen zweiten Enzyklika des Papstes "Laudato Si" in den Schatten gestellt zu werden. Darin warnt der Papst, dass das blinde Vertrauen in die Macht der Technologie und der Märkte, einschließlich des Emissionshandels, nicht die untragbaren Produktions- und Konsummuster ändern würde, die dafür verantwortlich seien, dass so viele Menschen auf dieser Welt ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen und ihre Grundrechte nicht in Anspruch nehmen könnten. Dieses blinde Vertrauen würde nur zu neuen Formen von Spekulationen führen.

"Vielmehr kann [der Emissionshandel] sich in einen Behelf verwandeln, der vom Eigentlichen ablenkt und erlaubt, den übermäßigen Konsum einiger Länder und Bereiche zu unterstützen … jedoch in keiner Weise eine radikale Veränderung mit sich bringt, die den Umständen gewachsen ist.“18

Die Enzyklika bringt das Thema Moral und Gerechtigkeit zurück in das globale Krisenmanagement und erklärt, "dass ein wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde".


Quellen und Anmerkungen:

 [1] Zu Nachhaltigen Entwicklungszielen siehe https://sustainabledevelopment.un.org/sdgsproposal
 [2]FfD-3-Abschlussdokument, überarbeiteter Entwurf vom 7. Mai 2015, Abs. 4.
 [3]Siehe den Bericht „Global Trends 2030” vom US-amerikanischen National Intelligence Council.
 [4]Global Wealth Report, Credit Suisse, Oktober 2014.
 [5]ebd., S. 30.
 [6]Laut des IEA World Energy Outlook 2014. Der im Bericht verfolgte Investitionspfad bleibt weit dahinter zurück, die Ziele der Klimastabilisierung zu erreichen, da die heutigen Maßnahmen und Marktsignale nicht stark genug sind, um Investitionen in der gebotenen Größenordnung und im erforderlichen Zeitrahmen in kohlenstoffarme Energieträger und Energieeffizienz umzuleiten: Ein Durchbruch auf der Pariser Weltklimakonferenz 2015 ist für eine andere Investitionslandschaft unabdingbar
 [7]IEA, https://www.iea.org/newsroomandevents/pressreleases/2015/june/iea-sets-o...
 [8]The Economist Magazine, 28. März 2015
 [9]OECD zitiert in: Charles Kenny. 2015. „Finding Cash for Infrastructure in Addis: Blending, Lending, and Guarantees in Finance for Development.” CGD Policy Paper 066. Washington DC: Center for Global Development. http://www.cgdev.org/publication/finding-cash-infrastructure-addis-blend...
[10]FfD 3 Überarbeitetes Abschlussdokument, 7. Mai 2015, Abs. 48.
[11]Die Afrikanische Entwicklungsbank, Asiatische Entwicklungsbank, Europäisch Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, Europäische Investitionsbank, Interamerikanische Entwicklungsbank, Internationaler Währungsfonds, und World Bank Group in der „Development Committee Discussion Note”, April 2015.
[12]„From Billions to Trillions…”, S. 16. Siehe Grafik auf S. 22 zu einem neuen Finanzierungsmodell.
 [13]Diese Investoren investieren Kapital in alle Anlagekategorien, vor allem Schuldverschreibungen, börsennotierte Aktien, Immobilien, Private Equity und Infrastruktur, aber auch in Hedge-Fonds und Derivate.
[14]„The Road to Dignity by 2030“, Abs. 92. (Deutsche Übersetzung unter http://www.dgvn.de/fileadmin/publications/PDFs/Blaue_Reihe/Blaue_Reihe_1...)
[15]„Pathways to Scale: Aligning the financial system with sustainable development”, Inquiry: Design of a Sustainable Financial System,” UN-Umweltprogramm, Januar 2015.
[16]„10 Emerging Trends for 2015“, Foresight Special Edition, KPMG, Januar 2015, S. 4.
[17]Op cit.
[18]Laudato Si, Abs. 171/Abs. 50.

"Ich mache diese Arbeit, weil ich an eine andere Welt glaube"

$
0
0
Tagebau El Cerrejón

Extraktive Industrien und genderbasierte Gewalttaten hängen in vielen Ländern stark zusammen. Im Interview berichtet Andrea Torres, kolumbianische Menschenrechts- und Umweltanwältin, wie sich Aktivitäten extraktiver Industrieunternehmen auf das Leben lokaler Gemeinschaften auswirken und sie mit ihrer Organisation Tierra Digna Frauen im Kampf gegen sexualisierte Gewalt unterstützt.

Der globale Rohstoffhunger wächst - ungeachtet vorübergehender Einbrüche durch Konjunkturschwankungen ist das Geschäft mit Mineralien, Erdöl oder Agrarrohstoffen mittel- und langfristig so lohnend, dass immer mehr Vorhaben auch in unzugänglicheren oder bisher verschonten Regionen erschlossen und realisiert werden. Mit den steigenden Investitionen und begonnenen Abbauaktivitäten wächst, trotz der damit verbundenen Wachstums- und Entwicklungsversprechen, auch das Konfliktpotential mit der von extraktiven Industrieprojekten betroffenen Bevölkerung: Landnahme und gewalttätige Vertreibung, Umweltbelastungen und Wasserknappheit, prekäre Beschäftigung, aber auch sexualisierte Gewalt gegen Frauen.

Genderbasierte Gewalttaten im Zusammenhang mit extraktiven Industrien, verübt von privaten oder staatlichen Sicherheitskräften, werden von vielen Unternehmen vernachlässigt und nicht verfolgt, wenn nicht gar als Element gezielter Strategien zur Einschüchterung und Kontrolle der Gebiete und Gemeinschaften bewusst toleriert oder gefördert. Staatliche Institutionen und Justiz sind in vielen Ländern unzureichend ausgestattet oder in einem komplizierten Interessensgeflecht zwischen Politik und Wirtschaft kooptiert und reagieren unzulänglich auf die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen.

Wie lassen sich in einem derartigen Kontext Menschenrechte angemessen schützen und durchsetzen? Wie können internationale Konzerne für sexualisierte und genderbasierte Gewalt im Kontext extraktiver Industrien verantwortlich gemacht werden? Das waren zentrale Fragen eines internationalen Fachworkshops, zu dem die Heinrich-Böll-Stiftung und das European Center for Constitutional and Human Rights am 21. Mai 2015 in Berlin eingeladen haben. Gemeinsam diskutierten Expert/innen aus Afrika, Europa, Lateinamerika und den USA über juristische Handlungsmöglichkeiten und Strategien. Die Beiträge und Debatten verdeutlichten, dass strafrechtliche Prozesse gegen Unternehmen für den Kampf gegen sexualisierte Gewalt wirksam sein können. Gleichzeitig sind solche Verfahren mit hohen finanziellen, kulturellen und politischen Hindernissen verbunden.

Über die Wirksamkeit und Grenzen solcher Prozesse berichtet Andrea Torres im Interview mit Tmnit Zere. Die kolumbianische Menschenrechts- und Umweltanwältin setzt sich bei der Organisation Tierra Digna für Gemeinschaften ein, deren Menschenrechte durch die Umsetzung von ökonomischen Strategien und Projekten bedroht und verletzt werden. Andrea Torres analysiert im Gespräch die aktuelle politische Situation in Kolumbien und erläutert, welche Auswirkungen die komplexe Menschenrechtslage auf ihrer Tätigkeit als Rechtsanwältin hat.

Viele kolumbianische Gebiete und Gemeinden sind sehr stark von der Bergbauindustrie betroffen. Können Sie uns einen kurzen Abriss von einem Fall sexuallisierter Gewalt im Kontext des Rohstoffabbaus in Kolumbien geben?

In Kolumbien lassen sich drei fundamentale aktuelle Entwicklungen beobachten: erstens, der Friedensprozess bzw. der bewaffnete Konflikt oder die Post-Konfliktsituation, die sich gerade entwickelt. Zweitens, die Zunahme von Großprojekten, und drittens, eine Zivilgesellschaft, die sich gerade erst von der Beschäftigung mit dem bewaffneten Konflikt löst und sich jetzt mit den Problemen der Großprojekte auseinandersetzt.

Das bedeutet, dass sich in den Gebieten, in denen sich Großprojekte ansiedeln, zahlreiche, zum Teil bewaffnete Akteure befinden: militärische wie paramilitärische, demobilisierte Guerillakämpfer, die Zivilgesellschaft, Unternehmen, und die Gemeinschaften. So kommt es, dass bei den Vergewaltigungen, die in den Bergbaugebieten angezeigt werden, wir immer noch dabei sind zu ermitteln, wer die Täter sind – bei sexuellen Übergriffen genauso wie bei Todesfällen, seien es illegale Hinrichtungen durch Angehörige des Militärs, sonstige Mordfälle oder Zwangsumsiedelungen. Das ist die Komplexität der Situation der Rohstoffindustrie in diesem Land. Deshalb wurde (während des Fachgespräches, Anm. d.Red.) darauf hingewiesen, dass es in Kolumbien noch keinen einzigen Fall sexueller Gewalt gegeben hat, der als solcher verfolgt und verurteilt wurde, und auch keine Rohstoffindustrie als solche, weil die Zivilgesellschaft immer noch im Begriff ist, diese Fälle vorzubringen und zu ermitteln, wer die tatsächlichen Täter sind.

Doch was sorgt uns am meisten? Zum einen haben wir im vergangenen Jahr aufdecken können, dass es Verträge gibt, in denen transnationale Unternehmen wie Drummond, Glencore, Anglogold Ashanti, dem kolumbianischen Militär in den Abbaugebieten Schutzgeld zahlen. Das ist die erste Sorge. Zweitens, ist im vergangenen Jahr herausgekommen, dass Verbindungen zwischen paramilitärischen Gruppen und Drummond existieren, zum Beispiel in dem Abbaugebiet, in dem auch Glencore arbeitet. Drittens, sind es vor allem die Gebiete, die während des Konfliktes und danach am meisten unter Vertreibung und Attentaten gelitten haben, in denen auch sexualisierte Gewalt gemeldet wird. Das sind die Indizien, die wir haben. Konkrete, gerichtsfeste Beweise liegen noch nicht vor, auch keine exemplarischen Fälle. Das ist die Situation derzeit und ganz klar ist das ein Thema, das wir als Zivilgesellschaft untersuchen um es voranzubringen.

Das ist sehr interessant, denn meine nächste Frage bezieht sich auf die rechtlichen Rahmenbedingungen. Sie hatten bereits angesprochen, dass die Situation in Kolumbien aufgrund der Geschichte des Landes und der derzeitigen Entwicklungen eine besondere ist. Welche Möglichkeiten und Handlungsspielräume bietet das kolumbianische Rechtssystem, auch vor dem Hintergrund, dass viele Länder Südamerikas sehr schwach ausgeprägte institutionelle Strukturen aufweisen?

In Kolumbien differenziert sich der rechtliche Rahmen folgendermaßen: Politische und rechtliche Entscheidungen, die große Industriezweige wie den Kohleabbau betreffen, werden von der Regierung des Landes getroffen. Die Regierungen vor Ort haben keine solche Entscheidungsmacht. Das ist das erste offensichtliche Problem. Warum? Weil die Projekte in den Departements [“departamento”, territoriales Gebiet mit wenig rechtlichen Befugnissen, nicht mit deutschen Bundesstaaten vergleichbar, Anm. d. Red] nicht die Entscheidungshoheit haben, um zu entscheiden, ob das Projekt vorangebracht wird oder nicht. Sie können das Projekt nicht überprüfen, weil all dies vom Präsidenten und der Zentralregierung entschieden wird. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind also ungleich, was zu Konflikten zwischen den Menschen, die in den Abbaugebieten leben und der Regierung, die den Abbau bewilligt hat, führt. Das ist ein Aspekt. Der zweite Aspekt ist, dass das ganze Land eine vereinheitlichte Gesetzgebung hat, die kolumbianische Verfassung einerseits, sowie das Umwelt- und Bergbaurecht andererseits. Allerdings stehen diese beiden Rechtsrahmen – das Umwelt- und das Bergbaurecht – im Konflikt zueinander und widersprechen sich zum Teil. Wir, die Anwälte und Anwältinnen, die heute diese Fälle bearbeiten, versuchen der Regierung klar zu machen, dass Entscheidungen in diesem Bereich ebenfalls aus einer Perspektive der Menschen- und Grundrechte der Verfassung getroffen werden müssen.

Kolumbien hat gute Richter und Richterinnen, und wir haben gute Gerichte. Wir vertrauen darauf, dass die Prozesse gut ausgehen, dennoch ist der Druck und Einfluss internationaler Akteure auf die Urteile unserer Gerichte von zentraler Bedeutung: Denn es wird großer politischer und wirtschaftlicher Druck von privatwirtschaftlichen Akteuren ausgeübt, damit solche Fälle nicht vor Gericht gebracht werden. Um dies präziser zu erläutern, lassen sich die zentralen Konflikte im Bereich der Gesetzgebung folgendermaßen zusammenfassen: Erstens, die Nicht-Anwendung des ILO-Übereinkommens 169 [Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern, Anm. d. Red.], das bei Entscheidungsprozessen im Rahmen der nationalen Rohstoff- und Bergbaupolitik vorherige Konsultationen zwingend vorschreibt. In diesen Fällen gewinnen wir die Prozesse. Gestern zum Beispiel haben wir einen sehr wichtigen Fall gewonnen, und das liegt daran, dass die Bevölkerung nicht konsultiert wird, wenn es um Bergbau geht oder über das Gebiet entschieden wird. Das ist das erste Problem.

Das zweite Problem ist die Nichtbeachtung eines unserer Gesetze, des allgemeinen Umweltgesetzes 99 aus dem Jahr 1993, in dem die Naturschutzgebiete des Landes ausgewiesen und die grundlegenden Prinzipien des Staates zum Umweltschutz festgelegt werden. Die Gesetze, die zum Rohstoffabbau erlassen werden, stehen im Widerspruch zu dieser Norm, und daraus entsteht der Konflikt, bei dem die Gerichte entscheiden müssen, welches Recht sich laut Verfassung durchsetzt, das Rohstoff- und Bergbaurecht, oder das Umweltrecht.

Das dritte Problem ist die Nicht-Anerkennung einer sehr wichtigen Kategorie des Umweltrechtes, nämlich die der Umweltschäden. Das heißt, dass die Gemeinden zwar faktisch unter tatsächlichen Umweltschäden leiden, diese werden aber von den Unternehmen nicht anerkannt, weil sie auf Grundlage einer Umweltgenehmigung [im Rahmen des Bergbaurechts, Anm. d. Red.] operieren. Rechtlich gesehen existiert zwar die Kategorie von Umweltschäden als Teil des Strafrechts, wie überall anders auf der Welt auch, aber als Frage der Rechtswissenschaft oder in Präzedenzfällen gibt es noch keine Klarheit darüber, in welchem Umfang das Konzept angewendet werden kann. Insofern ist es für uns Kolumbianer und Kolumbianerinnen, aber auch für die internationalen Gerichte eine Herausforderung, Fälle von Opfern von Rohstoffabbau zu verhandeln, um zu zeigen, welches die rechtlichen Grenzen des Konzepts von Umweltschäden sind.

Eine Frage zum Thema sexualisierter Gewalt. Die strafrechtliche Verfolgung von Fällen sexualisierter Gewalt kann für Gerechtigkeit sorgen, allerdings können auch soziale und politische Konflikte und Diskurse ausgelöst werden, die in vielen Fällen Zeugen/innen und Kläger/innen angreifbar machen. Meine Frage ist, wie geht Ihre Organisation mit diesen negativen Auswirkungen um, die sich aus dem öffentlich machen dieser Fälle ergeben und Zeugen/innen und Gemeinschaften negativ beeinflussen.

Nun ja. Zunächst, ereignen sich auf verschiedenen Ebenen Rechtsbrüche und Menschenrechtsverletzungen, wenn eine Gemeinschaft vom bewaffneten Konflikt oder von Konflikten mit der Rohstoffindustrie betroffen ist. Einerseits: kein Zugang zu Trinkwasser oder anderen natürlichen Ressourcen, andererseits: direkte Gewalt, Waffengewalt, Drohungen oder sexualisierte Gewalt. Hier besteht das erste Problem der Gemeinschaft darin, zu wissen, was sie zur Anzeige bringen können, und was sie vor Gericht bringen wollen. Das ist das erste Problem, das wir als Anwälte und Anwältinnen angehen.

Heute gibt es in Kolumbien viele Gemeinschaften, die erlebt haben wie es ist, Massaker, Attentate und sexualisierte Gewalt anzuklagen und sie wissen, dass es individuelle Strafsachen sind, die sie sehr viel stärker der Öffentlichkeit aussetzen. Deshalb haben sie Angst davor, Fälle von sexualisierter Gewalt im Rahmen des Rohstoffabbaus anzuzeigen. Das ist das eine. Gestern haben wir deshalb gesagt , dass dies eine entscheidende Hürde dabei ist, solche Fälle vor Gericht zu bringen. Aus einer lokalen Perspektive ist deshalb folgendes das Beste: Bevor ein Anwalt oder eine Anwältin einer Gemeinschaft sagt, wir bringen diesen Fall sexualisierter Gewalt vor Gericht, mit Beweisen, dass es Verbindungen zwischen den Unternehmen, dem Militär und dem Opfer gibt und so das Opfer bloßstellt, muss zunächst eine Entscheidung in der Gemeinschaft getroffen werden, ob dieser Fall verhandelt werden soll, ob die Gemeinschaft die Person unterstützen will und ob diese Person die Verhandlung verkraften kann. Gestern habe ich auch an die Risiken erinnert, die eine individuelle Anklage in Konflikten mit der Rohstoffindustrie mit sich bringt, die sich im Kontext eines bewaffneten Konflikts ereignen.

Also, wovon gehen wir aus, wenn wir solchen Schwierigkeiten gegenüberstehen? Sind das faktisch Situationen, die es in unserem Land gibt? Ja. Müssen sie vor die Gerichte gebracht werden? Ja, auch. Aber bevor juristische Schritte eingeleitet werden, braucht es zunächst eine intensive Arbeit mit der Gemeinschaft, um den Opfern Schutz zu bieten und herauszufinden, was die Gemeinschaften gemeinsam angehen wollen und auch, was die Opfer wollen. Die Frauen, beispielsweise, sorgen sich heutzutage in vielen Fällen sehr viel mehr um ihren Zugang zu Trinkwasser und den Hunger, den sie in den Abbaugebieten leiden, als sie daran interessiert sind, individuelle Fälle der Verletzung körperlicher Integrität vor Gericht zu bringen.

Das ist etwas Unglaubliches - ich selber kann das nicht glauben, aber wir erleben derzeit diese Situation. Das Thema natürlicher Ressourcen wird wieder zu einem Thema des täglichen Überlebens von ganzen Familien, und deshalb räumen sie ihm Priorität ein. Gestern sagten wir noch „Wir werden (diese Fälle) vor Gericht bringen“, aber wir werden neue Arten finden müssen, wie wir diese Fälle verhandeln können, nicht wie vorher, als das Opfer das Land verließ und wir den Fall an die nationalen Gerichtsbarkeiten der beteiligten Unternehmen, zum Beispiel in die Schweiz schickten. Es muss einen Wandel geben, die Methode muss geändert werden.

Eine Frage zur Zukunft des Landes. Was, würden Sie sagen, ist Ihr Ausblick auf Menschenrechtsverletzungen und Ihre Arbeit, die Gemeinschaften bei der Bewältigung dieser Probleme zu unterstützen?

Nun gut. Ich bin da sehr optimistisch. Ich mache diese Arbeit, weil ich an eine andere Welt glaube. Dafür bin ich sogar mehrfach getadelt worden. Aber deshalb macht man das. Ich glaube, dass Kolumbien ein Land voller Möglichkeiten und voller wunderbarer Menschen ist, die politische Entscheidungen treffen können, die sich von denen unterscheiden, die wir jetzt treffen. Ich gehöre zur neuen Generation von Menschenrechtsanwältinnen, die dieses Thema angehen. Wir sind uns bewusst, dass wir in unserem Land viele rechtliche und politische Probleme angehen müssen, die das Thema des Klimawandels betreffen, der Umwelt, der Entwicklung, die Multikulturalität in unserem Land, den Respekt für unsere Kultur, aber wir können es erreichen. Ich vertraue darauf. Und ich vertraue auch darauf, dass die Menschheit auf einer globalen Ebene verhandeln wird, wie wir leben wollen, denn vorher konnte ein jeder für sich leben, aber jetzt nicht mehr, wir können weniger und weniger isoliert leben. Ich vertraue auf die Arbeit. Es wird schwierig sein – ja, klar, diese Arbeit ist schwierig, Kolumbien war immer ein schwieriges Land, aber Ihr hattet auch ein schwieriges Leben, jeder muss schwierige Kämpfe austragen. Ich vertraue darauf, dass wir und die jungen Menschenrechtsverteidiger/innen, die wie wir aktiv sind etwas tun können. Tierra Digna z.B. ist eine Organisation junger Leute, die ich leite. Wir sind eine Gruppe von etwa 15 Personen die sich Klagen im ganzen Land widmet, für unsere Generation schreibt, die davon spricht, wie wichtig es ist, an eine Welt mit anderen Werten zu denken, mit anderer Politik. Wir mögen den Krieg nicht, wir mögen keine Waffen – wir sind so aufgewachsen und wollen keinen Krieg mehr, und deshalb glauben wir wieder daran, uns für die Demokratie einzusetzen, dafür wollen wir kämpfen, innerhalb eines demokratischen Rahmens.

 

Mehr zum Thema:

 


Neo-Extraktivismus – ein umstrittenes Entwicklungsmodell und seine Alternativen

$
0
0
Illustration Extraktivismus

"Neo-Extraktivismus" heißt der kritisierte Rohstoffabbau unter Kontrolle des Staates: In Lateinamerika trägt er kurzfristig zum Wirtschaftswachstum bei und bringt auf Dauer schwerwiegende Folgen mit sich. Über die Alternativen.

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist es zu weitreichenden Verschiebungen und Umbrüchen in der internationalen Arbeitsteilung und Aneignung der Natur gekommen. Das fulminante Wachstumstempo in Süd- und Südostasien, insbesondere aber der (Wieder-)Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsgroßmacht und zum weltweit wichtigsten Industrieproduzenten haben sowohl die Nachfrage nach Primärgütern aus den Ländern Südamerikas als auch deren Preise rasant in die Höhe getrieben. Gleichzeitig sind auf dem lateinamerikanischen Kontinent sogenannte fortschrittliche Regierungen auf den Plan getreten. Einige von ihnen haben sich mit neuen Verfassungen einen tiefgreifenden (revolutionären?) Umbau ihrer Gesellschaften zum Ziel gesetzt (Venezuela, Bolivien und Ecuador), während andere, gemäßigtere Regierungen eher der Sozialdemokratie nahestehen (Brasilien, Argentinien, Uruguay).

Das Thema "Extraktivismus" hat in den letzten zehn Jahren die Linke sowie Basisorganisationen und Volksbewegungen tief gespalten. Hier spiegeln sich unter anderem die divergierenden Vorstellungen von der angestrebten Gesellschaft sowie unterschiedliche Einschätzungen zum Sozialismus des 20. Jahrhunderts wider. Dementsprechend setzen die verschiedenen Strömungen jeweils auch unterschiedliche Schwerpunkte im Hinblick auf die zentralen Dimensionen bzw. Säulen des geforderten gesellschaftlichen Wandels. Sehr grob lassen sich die beiden Lager wie folgt charakterisieren: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die – zumindest für die erste Phase der Transformation – dem Antiimperialismus, der Wiederaneignung des Staates, der nationalen Souveränität, der kurzfristigen Überwindung von Armut bzw. Ungleichheit und dem Wirtschaftswachstum auf der Transformationsagenda Priorität einräumen. Sie problematisieren kaum die Folgen des Extraktivismus bzw. sehen sie weniger kritisch. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die zwar die vorgenannten Punkte nicht rundweg ablehnen, aber vorrangig nach Alternativen zum gegenwärtigen Modell des grenzenlosen Wachstums suchen. Sie legen dabei den Schwerpunkt auf Interkulturalität, Entwicklungswege und die Bewahrung des Lebens, das durch die Raubtierlogik des vorherrschenden Gesellschaftsmodells bedroht ist. Die Folgen des Extraktivismus sind dabei Gegenstand radikaler Kritik. Die hier aufgezeigte Kluft zieht sich auch durch die lateinamerikanische Wissenschaftsdebatte.

Die fortschrittlichen Regierungen und ihre Verfechter führen meist ins Feld, dass die erhöhte Nachfrage und der Preisanstieg für Rohstoffe genutzt werden müssen, um die erforderlichen Ressourcen für soziale, produktive und Infrastrukturinvestitionen zu erwirtschaften und damit in einer späteren Phase den Extraktivismus zu überwinden. Dies muss zwangsläufig mit einer stärkeren staatlichen Kontrolle über die Rohstoffausbeutung einhergehen, sei es nun durch Verstaatlichungen oder eine höhere Besteuerung, um so einen größeren Anteil am Einkommen abzuschöpfen, das zuvor im Wesentlichen den transnationalen Konzernen zugeflossen ist.

Die Erfolge der Regierungen

Die Politik der Ausweitung extraktiver Industrien und einer stärkeren Teilhabe des Staates an den daraus erzielten Einkommen konnte denn auch beachtliche Erfolge vorweisen, die die betreffenden Regierungen durchaus für sich beanspruchen können: Über mehrere Jahre hinweg wuchs die Wirtschaft. Nach einer langen defizitären Phase hatte Lateinamerika insgesamt von 2002 bis 2007 positive Zahlungsbilanzsalden vorzuweisen. Zwischen 2003 und 2012 ging die Schuldenstandsquote auf weniger als die Hälfte zurück. Die ausländischen Direktinvestitionen nahmen rasant zu. Aus geopolitischer Sicht ermöglichten die günstigen wirtschaftlichen Bedingungen ein höheres Maß an Autonomie. Durch eine verstärkte geographische Diversifizierung des Außenhandels und die Erschließung neuer Kreditquellen verringerte sich die bis dahin ausgeprägte Abhängigkeit von den USA und der Europäischen Union. Mit den positiven Zahlungsbilanzen konnten die Auslandsschulden bezahlt werden, die Regierungen konnten sich der Bevormundung durch die Bretten-Woods-Institutionen entziehen und Währungsreserven aufbauen. Nach dem Scheitern der Panamerikanischen Freihandelszone ALCA/FTAA gab es erste Schritte auf dem Weg zu mehr regionaler Integration wie ALBA, UNASUR und CELAC. Der Kontinent war von nun an nicht mehr der Hinterhof der USA.

Die kontinuierlich steigenden Steuereinnahmen ermöglichten umfangreiche Investitionen in Sozialprogramme wie die "Misiones" in Venezuela und "Bolsa Familia" in Brasilien. Hierdurch konnten 40 Millionen Menschen einen Ausweg aus der Armut finden. In all diesen Ländern wurde der Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialversicherungsleistungen verbessert, und bis zu einem gewissen Grad konnte sogar die Ungleichheit abgebaut werden. Die Regierungen konnten sich dementsprechend auf ein hohes Maß an Legitimität und politischer Stabilität stützen. Nach turbulenten Jahren der Volksaufstände, Staatsstreiche und Regierungen, die ihre verfassungsmäßig festgelegten Amtszeiten kaum bis zum Ende durchhielten, konnten sie alle mehrere Wahlsiege hintereinander erringen: In Venezuela hat die Regierung seit 1999, dem Jahr der Amtsübernahme von Präsident Chávez, vier Präsidentschaftswahlen in Folge gewonnen. Die brasilianische Arbeiterpartei und auch die Partei "Frente para la Victoria" in Argentinien sind aus jeweils vier Präsidentschaftswahlen als Sieger hervorgegangen. In Uruguay hat das Regierungsbündnis "Frente Amplio" im Oktober 2014 zum dritten Mal hintereinander die Präsidentschaftswahlen gewonnen. In Bolivien wurde Staatspräsident Evo Morales ebenfalls im Oktober 2014 mit 63 Prozent der Stimmen wiedergewählt, und in Ecuador konnte Rafael Correa zum Jahresende 2014 einen Popularitätsgrad von 70 bis 80 Prozent verzeichnen.

Der Extraktivismus und die Reprimarisierung der Volkswirtschaften könnten also durchaus als außerordentlich erfolgreicher Entwicklungsweg gesehen werden. Allerdings gibt es auch andere Vorstellungen von gesellschaftlicher Entwicklung. Beziehen wir diese anderen Blickwinkel mit ein, so fällt die Bilanz wesentlich differenzierter aus.

Zivilisatorischer Umbruch oder kapitalistisches Wirtschaftswachstum?

Vielerlei Gründe haben die Erwartung genährt, dass Südamerika diejenige Region unseres Planeten sein würde, in der die Kämpfe gegen den Neoliberalismus und um die Überwindung des Kapitalismus mit dem Aufbau zivilisatorischer Alternativen zum für die Moderne so typischen Modell einer auf grenzenloses Wachstum gestützten räuberischen Gesellschaft verknüpft werden könnten.  Eine herausragende Rolle bei dem in ganz Lateinamerika verbreiteten Widerstand gegen den Neoliberalismus und die Amerikanische Freihandelszone (FTAA) kommt den indigenen Völkern zu. Und auch der bäuerlichen und afrikanisch-stämmigen Bevölkerung. Die Verteidigung ihrer Territorien, der Kampf gegen Monokulturen und gentechnisch veränderte Organismen sowie der Megabergbau nahmen einen zentralen Stellenwert auf der politischen Agenda ein. Die Vorstellungen der indigenen Völker der Anden- und Amazonasregion vom "Guten Leben" fanden weitgehend Eingang in die politische Grammatik dieser Auseinandersetzungen. Erst die Bündelung dieser Kräfte des Wandels ermöglichte den Wahlsieg verschiedener linker bzw. fortschrittlicher Kandidatinnen und Kandidaten.

Mit diesen Regierungen verstärkte sich jedoch auch der Extraktivismus; der exportorientierte Primärsektor gewann an Bedeutung und tat so sein Übriges, um die globale Raubtierlogik weiter zu nähren. Dies trug zur Festigung des kapitalistischen Systems bei, gegen den sich der Kampf ja eigentlich richtete. Ungeachtet ihrer politischen Couleur tragen mittlerweile alle südamerikanischen Regierungen einen neuen kontinentalen Konsens mit, den "Rohstoff-Konsens".

Hierin liegt das Paradox bzw. der größte Widerspruch in den fortschrittlichen Regierungen Lateinamerikas, insbesondere in Bolivien und Ecuador: Gerade zu einem Zeitpunkt, als die Rechte der indigenen Völker zum ersten Mal in der Geschichte des Kontinents in den Verfassungen verankert, als in beiden Ländern plurinationale Staaten ausgerufen und die Rechte der Natur juristisch anerkannt wurden, findet die räuberisch-extraktivistische Logik der Enteignung eine rasante Verbreitung, und sie erfasst und verwüstet sogar solche Territorien, die in den vergangenen fünf Jahrhunderten von derartigen Expansionsprozessen des Kapitals noch einigermaßen verschont geblieben waren. In diesen Gebieten, an diesen neuen Grenzen des weltweiten Kapitals, werden nun die Gewässer und Böden verseucht und die Wälder zerstört; die biologische Vielfalt schwindet, die Bevölkerung wird vertrieben. Der Anbau für den Eigenverbrauch und die lokalen Märkte werden von genveränderten Monokulturen wie beispielsweise Soja abgelöst, so dass die Ernährungssouveränität bedroht ist. Trotz der Verfassungsinhalte können die betreffenden Regierungen keine Rücksicht auf die Rechte der indigenen und afrikanisch-stämmigen Völker und ihre angestammten Territorien nehmen, denn gerade diese Gebiete müssen der Logik der Rohstoffausbeutung unterworfen werden, selbst wenn dies eine Kriminalisierung des Widerstandes erfordert.

Im Hinblick auf die zerstörerischen Auswirkungen dieser Aktivitäten auf die indigenen, afrikanisch-stämmigen und bäuerlichen Bevölkerungsgruppen spielt es keine Rolle, ob die daran beteiligten Konzerne aus dem In- oder Ausland, aus Ost oder West stammen, ob es sich um staatliche oder privatwirtschaftliche Unternehmen handelt, oder ob es im Diskurs, der diese Aktivitäten begleitet, um Revolution oder Markt geht.

Zivilisationsmodell der Zerstörung des Lebens

Entgegen der Argumentation des bolivianischen Vizepräsidenten, Álvaro García Linera, ist Extraktivismus keine "technische Form" der Produktion, die mit jedem beliebigen Gesellschaftsmodell vereinbar wäre . Im Gegenteil: In seinem gegenwärtigen Mega-Ausmaß ist er Ausdruck eines anthropozentrischen, patriarchalen Zivilisationsmodells der Zerstörung des Lebens. Das extraktivistische Produktionssystem bringt nicht nur Waren hervor, sondern es trägt zur Herausbildung der an diesem Prozess beteiligten gesellschaftlichen Akteure bei. Es erzeugt Subjektivitäten und lässt tendenziell politische Regime entstehen, die sich durch Klientelismus und Rentismus   auszeichnen. Es macht die ärmeren Bevölkerungsschichten zunehmend abhängig von staatlichen Transferleistungen, und es schwächte ihre Fähigkeiten zur Selbstständigkeit und damit die Demokratie. Mit den Einkünften aus extraktiven Industrien können die Staatsausgaben erhöht werden, ohne dass die regressiv gestalteten Besteuerungssysteme reformiert werden müssen. Die Umverteilung über staatliche Zuschüsse und direkte Geldzuwendungen entspricht den unmittelbaren Forderungen der Bevölkerung; sie trägt jedoch kaum dazu bei, die Produktionsstrukturen der Gesellschaft und deren tiefgreifende Ungleichheiten aufzubrechen.

Ist der Extraktivismus einmal als gesellschaftliches Organisationsmodell etabliert, so ist er nur noch schwer umkehrbar. Die Spezialisierung auf die Rohstoffproduktion ermöglicht keineswegs eine Akkumulation, mit der Alternativinvestitionen zum Extraktivismus gesichert werden könnten, sondern sie versperrt tendenziell die Möglichkeit zu anderen Aktivitäten und führt so zur Deindustrialisierung des Kontinents. Dieses auf den Primärgüterexport gestützte Modell ist die Fortsetzung der historisch-kolonialen Formen der Einbindung in den Weltmarkt, die sich auf den Export von Natur und denökologisch ungleichen Handel stützen. Damit wird nicht die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus gefördert, sondern nur dessen unersättliche Raubmaschinerie genährt.

Die Theorie der komparativen Kostenvorteile und die Rohstoffpreise

Unter Rückgriff auf die klassische Theorie der komparativen Kostenvorteile im Welthandel stützten sich Regierungen und auch zahlreiche Wissenschaftler auf die Annahme, der kontinuierliche Anstieg der Nachfrage nach Rohstoffen und ihrer Preise deute darauf hin, dass die Verschlechterung der Terms of Trade zwischen Rohstoffen und Industriegütern der Vergangenheit angehöre. Unter den neuen Bedingungen sei es möglich, die hohen Rohstoffpreise zur Finanzierung der angestrebten Reformen zu nutzen. Im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts begannen die Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt erneut zu schwanken und entwickelten sich rückläufig. Dies galt für alle wichtigen Exportgüter des Kontinents.

Im zweiten Halbjahr 2014 brach der Ölpreis um mehr als 50 Prozent ein. Von Mitte 2011 bis Ende 2014 ging der Preis für Kupfer um 35 Proent zurück. Der Preis für Eisenerz betrug im November 2014 weniger als die Hälfte des Preises vom Februar 2011. Zwischen Juni und Oktober 2014 verringerte sich der Sojapreis um 27 Prozent. Am härtesten betroffen ist Venezuela, denn dort hat das Erdöl einen Anteil von 96 Prozent an den Gesamtexporten des Landes. Die Kontinuität der Sozialpolitik der letzten Jahre kann damit bei weitem nicht mehr sichergestellt werden.

Formen der Einbindung in den Weltmarkt und die Beziehungen zu China

Die Überwindung des Kapitalismus und der Weg zu Gesellschaften des Guten Lebens im Einklang mit der Natur erfordern notwendigerweise eine Abkoppelung von den für den Weltmarkt charakteristischen Mechanismen der Merkantilisierung sowie den Aufbau neuer Sozialgefüge und Produktionsräume als Alternativen zum grenzenlosen Wachstum, und ebenso auch andere Vorstellungswelten und kulturelle Konsummuster. Dies wäre lediglich innerhalb von immer dichteren, auf dieser anderen Logik basierenden Integrationsräumen möglich und ist nicht mit Produktionsmodellen vereinbar, die sich auf Extraktivismus und Primärgüter-Exportwirtschaften stützen, denn in diesen Ökonomien steht der Zugang zu den extrakontinentalen Märkten im Vordergrund.

Die Beziehungen zu China haben die Abhängigkeit des lateinamerikanischen Kontinents vom kapitalistischen Weltmarkt und seinen kulturellen Normen keineswegs verringert, sondern vertieft. Der enorme Rohstoffbedarf Chinas hat sowohl die Nachfrage als auch die Preise für die wichtigsten Rohstoffe, die Lateinamerika produziert, in die Höhe schnellen lassen und den Kontinent zur Reprimarisierung seiner Volkswirtschaften getrieben. Während der Rohstoffanteil an den lateinamerikanischen Gesamtexporten bei etwas über 40 Prozent liegt, beträgt er bei den Exporten nach China annähernd 70 Prozent. In seinen Handelsbeziehungen zu China tauscht Lateinamerika im Wesentlichen Rohstoffe gegen Industriegüter. Ein erheblicher Prozentsatz der Gesamtexporte der südamerikanischen Länder nach China konzentriert sich auf nur ein bis drei Basiserzeugnisse des extraktiven Primärsektors oder aber auf Agrarprodukte: Erdöl, Eisenerz, Kupfer, Soja, Sojamehl. In Brasilien, dem am stärksten industrialisierten Land des Kontinents, stieg der relative Anteil der Primärprodukte – vor allem Eisenerz und Soja – an den Gesamtexporten nach China zwischen 2005 und 2008 von 20 auf 80 Prozent

Diese Spezialisierung auf den Primärgüterexport stützt sich sowohl auf Kredite aus China als auch auf chinesische Investitionen: Seit 2005 hat China dem lateinamerikanischen Kontinent Darlehen in Höhe von über 100 Milliarden US-Dollar gewährt. Dieser Betrag liegt weit über dem Kreditvolumen, das auf die Weltbank, die Interamerikanische Entwicklungsbank und die Export-Import-Bank der USA zusammen entfällt. Ein Großteil der Mittel wird in direktem Zusammenhang mit der Rohstoffproduktion oder der dafür erforderlichen Infrastruktur eingesetzt. In einigen Fällen, wie in Venezuela und Ecuador, muss ein Teil der Kredite unmittelbar mit Öl bezahlt werden. Auch die chinesischen Investitionen konzentrieren sich auf die Rohstoffindustrien. All dies zwingt langfristig dazu, den Weg des Extraktivismus weiterzugehen.

Nach dem Extraktivismus

Angesichts der ungebremsten Fortsetzung dieser zerstörerischen Logik haben sich in den letzten Jahren die Kämpfe und Widerstandsbewegungen gegen den Extraktivismus und seine Infrastruktur (Staudämme, Straßen, Erdölpipelines, Häfen) verschärft und auf den gesamten Kontinent ausgeweitet. Kontinentale Netzwerke gegen Megabergbau, Wassergroßkraftwerke, Monokulturen und genveränderte Organismen sind entstanden. Die indigenen und afrikanisch-stämmigen Völker sowie die Bewohner kleiner, von den Metropolen weit entfernter Städte sind heute die zentralen Protagonisten dieser Kämpfe. Auf der lokalen Ebene sind wichtige Siege errungen worden, und in vielen Fällen mussten die Unternehmen aufgrund des Widerstandes der betroffenen Bevölkerung den Rückzug antreten. Die Forderungen dieser Bewegungen werden indes nur schwerlich von der Mehrheit der Bevölkerung, insbesondere den Ärmeren in den Städten aufgegriffen, solange das Vertrauen in die Entwicklung vorhält, solange die Regierungen die gegenwärtige Sozialpolitik mit Geldern aus den extraktiven Industrien finanzieren können und solange die Rohstoffausbeutung ihre zerstörerische Wirkung weitab von den großen Städten entfaltet.

In Lateinamerika schlägt heute niemand vor, von einem Tag auf den anderen das Ende des Extraktivismus auszurufen und ab sofort kein einziges Barrel Öl und keine einzige Tonne Eisenerz mehr zu fördern oder auf keinem einzigen Hektar Land mehr genveränderte Soja anzubauen. Dennoch ist es dringend erforderlich, die Debatten über den notwendigen Übergang zu einer nicht-extraktivistischen, nicht-rentistischen Ökonomie auszuweiten und zu vertiefen, und zwar jenseits der in den Regierungsdiskursen vorherrschenden inhaltsleeren Rhetorik von deren Notwendigkeit. Welche konkreten Maßnahmen müssten jetzt in so zentralen Kernbereichen wie dem Energiesektor, der Nahrungsmittelerzeugung oder dem Transportwesen ergriffen werden, um ein Produktionssystem und ein gesellschaftliches Organisationsmodell auf den Weg zu bringen, das sich nicht auf Desarrollismus, Extraktivismus und Rentismus stützt?  Wenn dieser Übergang nicht bald in Angriff genommen wird, so werden die fortschrittlichen Regierungen als diejenigen in die Geschichte eingehen, die die Verantwortung tragen für die beschleunigte Zerstörung unseres Planeten und für die enttäuschten Hoffnungen, dass eine andere Welt möglich ist!

Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt
Überarbeitet durch die Heinrich-Böll-Stiftung

Dieser Artikel erschien in einer gekürzten Version in "Perspectivas Lateinamerika: Jenseits des Raubbaus. Lateinamerikanische Alternativen zum Extraktivismus".

USA: Reisebericht von der Fracking-Tour

$
0
0

Fracking ist hochumstritten: In vielen Orten der USA hat die Technologie einen wirtschaftlichen Boom ausgelöst und gleichzeitig das Trinkwasser verseucht. Annette Kraus über ihre ersten Eindrücke von der Fracking-Tour 2015.

14 Partner/innen und Kolleg/innen der Heinrich-Böll-Stiftung aus neun Ländern reisen zur Zeit gemeinsam durch die USA, um zu sehen, was die „Shale Revolution“ den Menschen dort gebracht hat. In vielen Ländern sind Projekte der Gewinnung von Öl oder Gas durch Hydraulic Fracturing, „Fracking“ geplant. Die USA haben eine inzwischen jahrzehntelange Erfahrung mit der Technologie und die Gewinnung von Gas hat dort zu einem wirtschaftlichen Boom geführt. Die Tour soll eine Möglichkeit geben, die Folgen zu verstehen, um in anderen Ländern kritische Debatten zum Fracking anzuregen.

Die Tour führt nach Washington und Pennsylvania, wo unterschiedliche Personen aus Politik und Zivilgesellschaft einen Einblick in vielfältige Aspekte geben: Die gesetzlichen Regelungen auf föderaler, staatlicher und lokaler Ebene; die Auswirkung der Förderung auf das Leben und die Gesundheit der Menschen vor Ort und ihr Widerstand; Arbeitsmarkt und Sicherheit. Der Staat New York hat sich für ein Verbot des Fracking entschlossen. Hier wird sich die Gruppe zum Abschluss über die Gründe für diese Entscheidung informieren.

Eindrücke aus Susquehanna, Pennsylvania

In Teilen von Pennsylvania ist ein Wasserbüffel kein Tier. Es ist ein Wassertank, der neben einem Wohnhaus steht. Regelmäßig kommen Wassertanker und füllen diesen Tank wieder auf. So wird die Wasserversorgung des Hauses geregelt. Trinkwasser kauft man in Flaschen. In vielen Haushalten in Dimock im Nordosten von Pennsylvania ist das Brunnenwasser seit 2009 vergiftet und durchsetzt mit Methan. Dies sei eine Folge des in dieser Gegend teils in allernächster Nähe von Wohnhäusern durchgeführten Fracking finden Anwohner/innen und Umweltaktivist/innen. Das betreffende Öl- und Gasunternehmen dagegen sieht keinen Zusammenhang.

Wer den Film Gasland gesehen hat, kennt den Ort und die Geschichten. Die Behörden haben im Umfeld von neun Quadratmeilen ein Verbot für weitere Frackingaktivitäten ausgesprochen, bis die Methanwerte im Trinkwasser sinken – was sie nicht signifikant tun, da hilft auch regelmäßiges Messen nichts. Fröhlich sprudelt das in einen Plastikeimer fließende Wasser auch noch nach der Aufbereitung durch eine vom Gasunternehmen finanzierte Anlage im Garten von Bill.

Die Toilette spülen und seine Wäsche waschen kann man mit diesem Wasser schon, der kleine Enkel wird aber doch lieber im Wasser aus Trinkflaschen gebadet, zu viele Hautkrankheiten und Probleme mit den Atemwege haben die Menschen in der Nachbarschaft. Rays Wasserprobe fällt noch dramatischer aus: Ein beißender Geruch steigt aus dem Eimer auf, einige Wissenschaftler waren schon dort und haben versucht, herauszufinden, wo genau der Geruch herkommt. Ray hat sich, anders als sein Nachbar Bill, einer außergerichtlichen Einigung mit dem Unternehmen verweigert. Auf eine Wasseraufbereitungsanlage muss er daher verzichten. Statt dessen beginnt im November sein Prozess gegen das Unternehmen. Er selbst hat längst kein Geld mehr für den aufwändigen Kampf, Unterstützungsgruppen sammeln jetzt Geld für ihn.

Vera Scroggings hat uns zu Bill und Ray geführt. Sie führt unsere „Citizens Gas Tour“. Eine amerikanische Patriotin, die sich seit Jahren mit den Öl- und Gasriesen herumstreitet. Ihre starke Präsenz, allein oder mit Besuchsgruppen, in der Nähe von Bohrstellen, Pipelines und Kompressoranlagen hat dazu geführt, dass sie an vielen Orten richterliche Verfügungen auferlegt bekam – unser Bus darf beispielsweise keinesfalls direkt vor der Einfahrt einer Anlage anhalten.

Die Gewinnung von Erdgas durch Fracking ist mit hohen finanziellen Risiken verbunden, sie wird meist in kleineren Unternehmen durchgeführt, die ihr Vorhaben durch Banken finanzieren lassen. Der Druck, unter dem diese Unternehmen stehen, in Zeiten sinkender Ölpreise Geld zu verdienen, ist sehr hoch. Eine Bürgerin, die die Probleme offen beim Namen nennt, aktiv durch die Gemeinden geht und Informationen sammelt und noch dazu Gruppen die Orte des Geschehens zeigt, ist hier nicht willkommen.

Über 1000 Bohrungen gibt es allein im County Susquehanna, geplant sind 4000. Einen guten Überblick über die Vorhaben im gesamten Marcellus-Shale gibt die Website www.marcellusgas.org. Nur 180 Meter Abstand müssen die Anlagen von bewohnten Gebäuden haben. Das schließt Schulen und Krankenhäuser ein. Es hat in der Gegend bereits einige Explosionen in Kompressoranlagen gegeben. Auch kommt es regelmäßig vor, dass Gas aus Pipelines entweicht.

Nicht alle Betroffenen befinden sich in Konfrontation mit den Unternehmen: Diejenigen, die die Pachtverträge mit den Firmen abgeschlossen haben, gute Einkünfte erzielen und keine negativen Effekte verspüren, sind zufrieden. Andere lassen sich auf außergerichtliche Einigung ein, erhalten Entschädigung und sind ab dann an eine strenge Schweigepflicht gebunden. Diese Praxis hilft den betroffenen Familien zwar unmittelbar, verhindert aber, dass valide und gerichtsfeste Daten erhoben werden können.

Pennsylvania ist Bilderbuchamerika: Sanfte Hügel, großzügige Holzhäuser, gepflegte Gärten. Auf den ersten Blick eine Idylle. Tatsächlich zu schön, um wahr zu sein.

Dieser Beitrag erschien zunächst auf dem Blog "Klima der Gerechtigkeit".

USA: Auf Fracking-Tour Teil 2

$
0
0
Dimock, Pennsylvania

Amerika in Not? Fracking ist in den USA - trotz seiner großen Umweltschäden - vielerorts erlaubt. Annette Kraus berichtet im zweiten Teil ihrer Fracking-Tour von Eindrücken aus Pennsylvania und New York State.

Wer in den USA die amerikanische Flagge umgekehrt aufhängt, verunglimpft damit keinesfalls ein nationales Symbol: Die auf dem Kopf stehende Flagge ist der militärische Code für eine drohende Gefahr. So sehen es – wie bereits berichtet - manche Bewohner des Bundesstaates Pennsylvania. Die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen trägt eine Nichtregierungsorganisation zusammen, mühsam und nicht mit der allergrößten Unterstützung der Gesundheitsbehörden.

Es sind nicht nur die Menschen und die Umwelt vor Ort, für die das Fracking zum Problem wird. Gas wird angepriesen als "Brückenbrennstoff", da die CO2-Emissionen bei der Verbrennung deutlich niedriger sind als bei Öl oder Kohle. Hochproblematisch allerdings ist, dass das im Prozess der Gewinnung durch Fracking ungewollt und unkontrolliert entweichende Methan ein um ein Vielfaches potenteres Treibhausgas ist als CO2. Die Cornell University in Ithaca, New York hat zu diesem Thema von der Industrie unabhängigeStudien erarbeitet, die in ihrer Warnung und Ablehnung von Fracking klarer nicht sein könnten.

Den Öl- und Gasunternehmen wurde das recht sorglose Agieren übrigens erleichtert durch sehr bequeme gesetzliche Vorgaben: Im Gesetz zur Energiepolitik der Regierung George W. Bush von 2005 wurde für das hydraulische Fracturing der amerikanischen Umweltschutzbehörde EPA explizit die Kontrollautorität entzogen. Dieses gesetzliche Schlupfloch wurde vom damaligen Vizepräsidenten Cheney verantwortet und wird daher süffisant "Halliburton Loophole" genannt. Cheney war langjähriger Geschäftsführer von Halliburton, der Firma, die das Fracking erfunden haben soll.

Im Bundestaat New York wurde im Dezember 2014 ein Fracking-Verbot beschlossen. Ein breites Netzwerk aus Politiker/innen, Ärzt/innen, prominenten Wissenschaftler/innen, Vertreter/innen der indianischen Gemeinschaften und anderen Anwohner/innen hat mit intensiver Kampagnenarbeit diese Entscheidung erkämpft.

Der Gouverneur des Bundesstaates hat neben viel Lob auch viel Kritik für diese Entscheidung hinnehmen müssen. Die Hinweise auf die hohen Gesundheitsrisiken waren jedoch zu stark. Der Bundestaat New York bietet zudem die wichtigsten Wasserreservoirs für die Trinkwasserversorgung des Großraums New York City – neun Millionen Menschen. Umfangreiche wissenschaftliche Untermauerung wurde im Juni 2015 nachgeliefert: Die Umweltbehörde des Bundestaates New York veröffentlichte eine Studie, die sich im Detail mit den Risiken für Gesundheit, Wasser- und Luftverschmutzung, Erdbebengefahr, Strahlung, Lagerung der Frackingrückflüsse, sozioökonomischen Folgen und den Auswirkungen auf die Infrastruktur befasst.

In der Infrastruktur liegt auch gleich der nächste Schauplatz für Auseinandersetzungen: Das in Pennsylvania geförderte Gas muss mit Pipelines transportiert werden, Zwischenlager für das Gas sollen auch in New York errichtet werden. Immer wieder blockieren Anwohner und Umweltschützer derartige Einrichtungen und es kommt zu vorübergehenden Festnahmen, wie zum Beispiel in der vergangenen Woche in Crestwood.

Was sagen die betreffenden Unternehmen? Wir hätten es gern gewusst und sie mit unseren Fragen und Zweifeln konfrontiert. Leider wollte keines der angefragten Unternehmen mit uns sprechen. Es bleiben die Eindrücke zerstörter Landschaften und zersplitterter Gemeinden. Der wichtigste Rat an potentiell betroffene Bürger/innen wurde uns in Albany, New York, gegeben: "Wenn sie bei dir mit dem Fracking anfangen wollen, besorg dir einen Anwalt!"

Dieser Beitrag erschien zunächst auf dem Blog "Klima der Gerechtigkeit".

 

Wendepunkt: Entkopplung von CO2-Emissionen und Wirtschaftswachstum

$
0
0
Windenergie

Wachstum durch den Ausbau erneuerbarer Energien ist möglich. Das zeigt die Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftswachstum im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung über die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch.

Damit Maßnahmen gegen den Klimawandel weltweit greifen, ist es unerlässlich, Wirtschaftswachstum so umzugestalten, dass es weniger von fossilen Rohstoffen und den damit verbundenen Treibhausgasen (THG) abhängt. Das Jahr 2014 war das erste seit Jahrzehnten, in dem global die Wirtschaft wuchs und die THG-Emissionen der Energiebranche dennoch sanken. In der vorliegenden Studie soll versucht werden, diese Entwicklungen und ihre Ursachen zu erklären, und zwar mittels deskriptiver Analyse der Daten, kritischer Durchsicht der Forschungsliteratur sowie Regressionsanalyse. Ausgewertet werden hierzu Daten für 34 Länder und über ein Vierteljahrhundert (1990-2014), darunter zu Wirtschaftswachstum, energiebezogenen THG-Emissionen, Energieverbrauch sowie Energieträgern. Unser besonderes Augenmerk gilt dabei China, den USA und Deutschland, welche wir anschließend mit den OECD-Staaten, Indien sowie der Welt insgesamt vergleichen.

Um auf spezifische Entwicklungen eingehen zu können, unterscheidet die Studie zwischen einer schwachen und einer starken Entkopplung von Energieverbrauch und Wirtschaftswachstum. Schwache Entkopplung liegt vor, wenn die Energieintensität gemessen als Energieverbrauch im Verhältnis zur Bruttoinlandsprodukt (BIP) rückläufig ist, der absolute Verbrauch aber analog zum Wirtschaftswachstum weiter steigt. Von starker Entkopplung sprechen wir, wenn der absolute Verbrauch bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum sinkt. Dasselbe Prinzip wenden wir auch an für die Untersuchung der Entkopplung von THG-Emissionen und von konventioneller Energie, d.h. der Summe von nuklearem und fossilem Energieverbrauch.

Wirtschaftswachstum durch erneuerbare Energien ist möglich

Im vergangenen Jahrzehnt ging das globale Wachstum einher mit einem steten Anstieg des Energieverbrauchs – und das, obgleich die konventionelle Energieintensität sank. Zu dieser schwachen Entkopplung kam es durch verbesserte Energieeffizienz und den Ausbau erneuerbarer Energien. Seit 2004 sind Wind- und Sonnenenergie global die am schnellsten wachsenden Energiequellen, und dieser Anstieg beschleunigte sich in den vergangenen vier Jahren noch einmal deutlich. Dies gilt insbesondere auch für China, Indien und die OECD-Staaten. Unsere empirische Wirkungsanalyse zeigt zudem, dass Wirtschaftswachstum durch den Ausbau erneuerbarer Energien möglich ist. Dies macht Hoffnung für die Chancen von Klimapolitik. In den letzten zehn Jahren kam es besonders in den OECD-Ländern zu einer starken Entkopplung von konventioneller Energieerzeugung und Emissionen. Das Beispiel Deutschland zeigt, durch eine gelungene Strategie für erneuerbare Energien und erhebliche Energieeinsparungen lassen sich trotz Atomausstiegs Emissionen deutlich absenken.

Wegen ihres starken Wachstums spielen China und Indien für globale Trends eine besonders wichtige Rolle. Allerdings wachsen die beiden Länder sehr unterschiedlich. China gelang, trotz anhaltenden Wachstums, eine schwache Entkopplung von konventioneller Energie und Emissionen, und bald schon könnte auch eine starke Entkopplung möglich sein. Im Jahr 2014 stieg Chinas Kohleverbrauch nicht weiter an, und die mit 3 Prozent vergleichsweise geringe Zunahme des Energieverbrauchs wurde vor allem mit emissionsarmen Energieträgern wie Wind und Sonne gedeckt. In Indien hingegen wird der Ausbau der erneuerbaren Energien durch Investitionen in Energieträger, die hohe THG-Emissionen verursachen – vor allem in die Kohleverstromung –, mehr als neutralisiert.

Wie es in den USA, dem weltweit zweitgrößten Verursacher von THG-Emissionen, weitergeht, ist nicht klar. Zwar gelang es den USA, solides Wirtschaftswachstum zu verbinden mit sinkenden Emissionen, seit 2012 ist jedoch keine starke Entkopplung mehr festzustellen. Sollte China seine Emissionen weiter senken, ständen mit den USA und Indien nur noch die beiden größten Demokratien der Welt dem Erfolg einer globalen Klimapolitik im Wege.

 

Die Studie steht Ihnen auf Englisch als pdf zum Download zur Verfügung: "Turning point: Decoupling Greenhouse Gas Emissions from Economic Growth".

Können Neuwahlen Kanadas Kohlenstoffrausch beenden?

$
0
0

Kanada gilt als internationaler Klimanachzügler, besonders auf Grund der exzessiven Förderung von Ölsand. In der aktuellen Parlamentswahl sind erstmals Umwelt- und Klimafragen zum Herzstück der Debatte über die kanadische Wirtschaft geworden.

Wird die seit 2007 regierende konservative Partei von Premierminister Stephen Harper bei den kanadischen Neuwahlen am 19. Oktober abgewählt? Darauf hoffen zumindest globale Klimaschützer. Denn Kanada, das weltweit an neunter Stelle der globalen Luftverschmutzer steht, hat inzwischen den weltweit höchsten Pro-Kopf-Austoß von klimaschädlichen Treibhausgasen. Schuld daran ist die Wirtschaftswachstumsstrategie der Harper Regierung über die letzten neun Jahre, die seit ihrem Amtsantritt im Februar 2006 darauf gesetzt hat, das nördliche Land am Rande der Arktis, das nach Saudi Arabien und Venezuela über die drittgrößten Ölreserven der Welt verfügt, zu einer Energiesupermacht zu machen. Mittel dazu – burn, baby, burn– ist die geplante Verdoppelung der Förderung von Kanadas Bitumen-reichen Teersanden vor allem aus der westlichen Provinz Alberta von derzeit 2.1 Millionen auf 5 Millionen Barrel Öl pro Tag.

Umweltschützer/innen wurden zu Staatsfeinden

Zur Verteilung und den Export dieses dreckigen marginalen Öls, dessen extrem klimabelastende industrielle Erschliessung überhaupt erst durch moderne Fördertechnologien, den globalen Rohstoffboom und weltweit steigende Rohölpreise profitable wurde, treibt die Harper-Regierung seit Jahren mehrere massive Öl-Pipeline Projekte voran – darunter das wohl international bekannteste Pipeline Projekt Keystone XL, das kanadisches Öl nach Texas pumpen soll und seit Jahren auf die Zustimmung der US-Regierung wartet. Um diese Projekte im eigenen Land durchzusetzen, unterhöhlte die konservative Regierungsführung seit Amtsantritt die bestehende Umweltgesetzgebung systematisch. Einheimische Gegner dieser Strategie – Umweltschützer, lokale Aktvist/innen und Stammesangehörige der aborignal First Nations – wurden zu Staatsfeinden deklariert und geheimdienstlich überwacht. Zudem haben signifikante Budgetkürzungen über die Harper-Jahre das kanadische Umweltministerium, vor allem dessen Abteilungen für Klimawandel und Luftschutz, derart geschwächt,  dass das kanadische Regime für Umweltverträglichkeitsprüfungen in den Worten der Parteiführerin der kanadischen Grünen, Elizabeth May, "selbst für ein Entwicklungsland lachhaft" wäre.

Abschied vom Kyoto-Protokoll

Die von der Harper-Administration vorangetriebene kanadische Teersand-Expansion war auch der Hauptgrund hinter dem Austritt Kanadas im Dezember 2011 aus dem Kyoto-Protokoll, der bislang einzigen internationalen Klimavereinbarung mit verbindlichlichen Emissionsreduktionszielen, zumal klar war,  dass das Land seine Kyoto-Verpflichtung, seine Emissionen bis 2012 um sechs Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren, nicht halten konnte. Tatsächlich lag Kanadas Ausstoß an Grünhausgasen nur ein Jahr später bereits 23 Prozent über dem Kyoto-Ziel. 2013 dann zog sich die Harper-Regierung – als bislang einzige Nation weltweit –auch aus der UNO Abkommen zur Bekämpfung der Wüstenbildung (UNCCD) zurück, was zuhause als "Abkehr von der Weltgemeinschaft“ gesehen wurde. Kanadische Kritiker wie Maude Barlow vom Council of Canadians höhnten, der UNCCD-Austritt sei nur folgerichtig, denn die Harper Regierung "wolle an nichts beteiligt sein, dass mehr Beweise dafür erbringt,  dass unsere Welt in einer existentiellen Umweltkrise steckt.“ International gilt Kanada inzwischen zusammen mit Australien, Japan und Russland als "internationaler Klimanachzügler“ und als Bremsblock für konstruktive Klimaverhandlungen. Diese Gruppe der Klima-Paria-Staaten, Kanada inklusive, spielt nach Ansicht des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Kofi Annan"Poker mit dem Planeten und dem Leben zukünftiger Generationen.“ Laut kanadischen Presseberichten waren es auch Kanada und Japan, die gemeinsam beim deutschen G7-Gipfel im Juni in Elmau hinter den Kulissen fieberhaft daran gearbeitet haben, die Klimapassage in der G7-Abschlusserklärung und damit Bundeskanzlerin Merkels G7-Ambition zu verwässern. Angesichts dessen kommt das überraschende Versprechen der Harper-Regierung, 300 Millionen Kanada Dollar in den neuen Grünen Klimafonds (GCF) einzahlen zu wollen, fast einem kleinen Wunder gleich – oder ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Die USA als Vorbild

Jahrelang versuchte Premier Stephan Harper Kanadas niedriggesteckete Klimaschutzziele mit dem Hinweis darauf zu rechtfertigen, Kanada strebe aufgrund der symbiotischen wirtschaftlichen Verwebung mit den USA eine enge Harmonisierung der Klima- und Energiepolitik der beiden Nachbarstaaten an. Es war mit Blick auf und als angebliches Match für die amerikanischen Klimaschutzzusagen auf dem Kopenhagener Klimagipfel 2009, dass Kanada in Kopenhagen sein damaliges Reduktionsversprechen von 17 Prozent weniger Emissionen als im Referenzjahr 2005 bis zum Jahr 2020 gab– was eine deutliche Schwächung des kanadischen Kyoto-Versprechens bedeutete. Legt man die gegenwärtigen gesetzlichen Energie- und Klimavorschriften zugrunde (und ohne deren signifikante Verschärfung), werden Kanadas Emissionen bis 2020 bereits volle 26 Prozent über dem Kyoto-Wert liegen mit einem stetig wachsenden Anteil der Klimaschadstoffe, die durch die Tarsandförderung verursacht werden. Letztere könnten bis 2020 bereits 14 Prozent des gesamten kanadischen Schadstoffausstosses ausmachen. Der Ehrgeiz und die Erfüllbarkeit kanadischer Klimaschutzziele sind damit untrennbar mit der Klärung der kanadischen Teersandfrage verwoben. Aus dem Nachbarland USA hat das auch der Wahlkampfleiter der möchtegern US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, John Podesta, unterstrichen und Kanada aufgefordert, auf heimischen Boden, mehr zu tun um seine "exzessiven Emissionen“ durch Teersande zu kompensieren.

Keine faire Emissionsminderung

Der Versuch Stephen Harpers sich hinter einer vermeintlich fehlenden US-Klimapolitik zu verstecken, um von eigenen Klimapolitikdefiziten abzulenken, wird seit einigen Jahren immer schwieriger: der grosse Bruder im Süden investiert prozentual deutlich mehr in grüne Jobs und erneuerbare Energie als Kanada, das sich grüner Investitionen in Höhe von 10 Milliarden Kanada-Dollar seit 2006 rühmt. Die Obama-Regierung hat zudem jetzt im Vorlauf des historischen Klimagipfels in Paris im Dezember freiwillige amerikanische Emissionsreduktionsversprechen vorgelegt, die der kanadische Premier als zu aggressiv, um mit ihnen gleichzuziehen beschrieben hat. Tatsächlich bekommt der von Kanada Mitte Mai vorgelegte konkrete Vorschlag, welche freiwilligen Verpflichtungen das Land im neuen internationalen Klimaabkommen mit Gültigkeit ab 2020 eingehen will (Intended Nationally Determined Contributions, INDC) von Klimaexpert/innen das Prädikat "ungenügend“ verliehen, die zudem davon ausgehen, dass Kanada die selbstgesteckten Ziele ohne umwälzende Energiepolitikreformen bei weitem verfehlen wird. Die Harper Regierung bietet eine Treibhausgasemissionsminderung von 30 Prozent bis 2030 gegenüber 2005 an. Der Vorschlag ist zum einen unaufrichtig, weil Kanada Emissionskredite, die es für seine Wälder und Tundren als Kohlenstoffsenken bezieht, miteinrechnet und sich zudem die Option offenhält, das nationale Emissionsreduktionsziel auch mithilfe des internationalen Emissionshandels (offsetting) zu erreichen. Zum anderen ist die angebotene Emissionsminderung viel zu wenig: ein fairer globaler Anteil wäre nach Einschätzung von Expert/innen angesichts der Verschmutzerrolle und Wirtschaftsmacht Kanadas eine Senkung der kanadischen industriellen Emissionen um mindestens 73 Prozent bis 2030 gegenüber 2005. Zum Vergleich: Das US-amerikanische INDC stellt eine 26-28 prozentige Reduktion gegenüber 2005 bis 2025 in Aussicht, die EU verspricht eine 40prozentige Schadstoffausstoßverringerung gegenüber 1990 bis 2030, jeweils ausschließlich durch Maßnahmen auf heimischen Boden zu erreichen.

85 Prozent der kanadischen Teersande müssten im Boden bleiben

Wie in den USA noch bis vor kurzem, ging Politikambition und Umsetzungswille in den letzten Jahren als Folge von Untätigkeit oder gar Regression im Klimabereich auf Bundesebene vor allem von einzelnen kanadischen Provinzen oder von Städten wie Vancouver aus. Letzere rühmt sich beispielsweise, die niedrigsten Schadstoffemissionen unter allen wichtigen nordamerikanischen Metropolen zu haben, und spricht sich offen gegen die Kinder Morgan Transgebirgische Pipeline aus, die Vancouver mit dem selbsterklärten Ziel, "die grünste Stadt der Welt“ zu werden, stattdessen in einen der wichtigsten Exporthafen für Schweröl verwandeln würde . Vier Provinzen (British Columbia, Quebec, Ontario und Teersandregion Alberta) haben im April 2015 ein gemeinsames Kohlenstoffpreis-System beschlossen. Ontario, nach Alberta Kanadas zweitgrößte Verschmutzerregion, hat bereits 2014 alle seine Kohlekraftwerke vom Netz genommen und trat im April auch offiziell dem regionalen Kohlenstoffmarkt der Western Climate Initiative teil, in dem Quebec und das amerikanische Kalifornien bereits gemeinsam agierten. Allerdings unterstützen die Provinzfürsten generell auch die Teersand- und Ölförderung und den Ausbau der nationalen Pipelinekapazität. Erst im Juli stimmten die Führer der kanadischen Provinzen einer Nationalen Energiestrategie zu, die sehr zum Leidwesen der kanadischen Klimaschützer/innen keine Emissionsreduktionsziele enthält und die Expansion von Teersanden sogar noch einfacher machen könnte. Will die globale Gemeinschaft aber ihr 2 Grad Celsius Erwärmungsziel nicht überschreiten, so müssen nach Kalkulationen von Klimaforscher/innen 85 Prozent der kanadischen Teersande im Boden bleiben. Damit müßte die gesamte kanadische Teersandförderung nach gegenwärtigen Förderraten in nur sieben Jahren beendet werden.

Volatilität der Ölpreise führt zu wackliger Wirtschaft

Wie groß die Rolle ist, die Stephen Harpers ungenügende Klima- und Umweltpolitik – in der nationalen Umsetzung und auf dem internationalen Parkett – im laufenden kanadischen Wahlkampf spielen wird, ist ungewiss. Dass sie aber eines der wichtigeren Wahlthemen sein kann, die zudem den Konkurrenten der Oppositionsparteien aller Coleur eine breite Angriffsfläche auf den amtierende Premier bietet, ist klar. Denn die Energiegroßmacht-Wachstumsstragie der konservativen Regierung hat die kanadische Wirtschaft auch der Volatilität globaler Ölpreise ausgesetzt und zur Jahresmitte 2015 an den Rand der Rezession gebracht. Die "wacklige Wirtschaft“, Sorgen um wachsende Lebenshaltungskosten und Nahrungsmittelpreise und die Zukunft der Pensionssysteme sind nach jüngsten kanadischen Meinungsumfragen die vier erstplazierten Themen über die befragte Bürger/innen mehr von den Parteiführern hören wollen, gefolgt an fünfter Stelle vom Umweltschutz. Eine erste Fernsehdebatte der vier Hauptkandidaten/innen ums Premierministeramt Anfang August, in der Premierminister Harper den Wirtschafts- und Umweltkurs seiner Regierung gegenüber Angriffen von Tom Mulcai (National Democratic Party, NPD), Justin Trudau (Liberale) und Elizabeth May (Grüne) verteidigen musste, zeigte, dass mit dem Streit um die Ölpipelines erstmals Umwelt- und Klimafragen zum Herzstück der Debatte über die kanadische Wirtschaft geworden sind. Für eine wachsende Anti-Pipeline-Volksbewegung aus Umwelt- und Klimaschützer/innen, lokalen Aktivisten/innen und Vertreter/innen der First Nations, die ein nationales Moratorium weiterer Teersandvorhaben fordern, ist der Wahlkampf damit auch die Chance für eine nationale Debatte darüber, welche Wirtschaftsstrategie Kanada braucht, um der Herausforderung des Klimawandels zu gegegnen. Die First Nations, deren Landrechte durch das kanadische oberste Verfassungsgericht garantiert sind und in vielen Einzelfällen den Pipeline-Projekten die Durchquerung ihrer Territorien verwehren, spielen dabei eine besondere Rolle und sind nach Einschätzung der kanadischen Autorin Naomi Klein"unsere beste Chance“ für den Stopp der kanadischen Teersandexpansion.

Klimaschutz ist wichtiger als Pipelinebau

Die Stoßrichtung dieser Volksbewegung genießt breite Zustimmung in der kanadischen Bevölkerung, wenn man einzelnen Meinungsumfragen trauen darf. Laut einer Erhebung des kanandischen Climate Action Networks (CAN Canada) vom April diesen Jahres findet eine Mehrheit von 61 Prozent der Befragten (natürlich mit Unterschieden je nach Parteizugehörigkeit) den Klimaschutz wichtiger als Pipelinebau und Teersandförderung und gar 70 Prozent wollen das ihr Land international eine Führungsrolle im Klimaschutz übernimmt. Überraschend deutlich ist auch die Gender-Differenzierung dieser Befragung: rund 12 Prozent mehr kanadische Frauen als Männer wollen deutliches Handeln im Klimaschutz. Sie stellen auch die Mehrheit der noch unentschlossenen Wähler und haben damit nach Ansicht von Loiuise Comeu von CAN Canada in dieser Wahl "die Macht, Kanada in Sachen Klimaschutz zu bewegen.“

Kanadische öffentliche Meinung zum Klimawandel ist im übrigen seit Jahren relativ stabil, mit mehr als 60 Prozent aller Befragten besorgt über Klimaveränderungen und einer grundsätzlichen Erwartung, dass Regierungen (sowohl auf Bundes- wie auf Provinzebene) mit Vorschriften und Gesetzesgebung im Klimaschutz aktiv werden müssen. Ob die im Vergleich zur US-amerikanischen Bevölkerung insgesamt prozentual größere Unterstützung kanadischer Bürger für den Klimaschutz dieses Mal Konsequenzen an der Wahlurne hat, ist allerdings – zumindest im Blick auf die Ergebnisse der letzten beiden Bundeswahlen in Kanada 2008 und 2011, die Stephen Harper im Amt bestätigt haben – ungewiss.

Naomi Klein, andere kanadische Kommentaren– und letzlich Klimaschützer und vom Klimawandel bereits Betroffene in aller Welt – hoffen,  dass das anhaltende "Leidenschaftsdefizit,“ wonach Kanadas Wähler zwar Klimaschutz wollen, aber andere Dinge eben noch mehr, am 19. Oktober endlich überwunden werden kann.

Viewing all 100 articles
Browse latest View live